Timidus
Mittwoch, 3. November 2004
Avenida Paulista
„Ganz ruhig“, flüstert er Alexandra ins Ohr. „Es geschieht dir nichts!“ Das kalte Rohr der Knarre an ihrer Schläfe. Mit hurtigen Bewegungen tastet er ihre Hosentaschen ab.
„Wo hast du die Knete?“
„Vorne links“. Alexandra stottert im fremden Akzent.
Menschen hasten vorbei. Fahrzeuge quälen sich in zähem Fluss über die vierspurige Piste. Niemand greift ein, die Eilenden machen einen Bogen um die beiden.
Sie zittert, Schweiß rinnt über die Stirne, Angsttränen brennen in den Augen.

Er zieht die kleine Lederbörse aus ihrer Hosentasche, nimmt die Armbanduhr von ihrem Handgelenk, schlägt ihr mit dem Pistolengriff auf den Kopf. Alexandra fällt zu Boden. Hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Er ist davongelaufen, entschwunden durch die hektische Menge.

Sie setzt sich auf, stützt sich mit der Hand auf das Quadersteinpflaster. Kurze, heftige Atemzüge, Herzklopfen. Es kitzelt auf ihrem Nacken. Sie fährt mit der Hand zu der Stelle. Blut klebt an ihren Fingern.

Benommen steht sie auf. Menschen rempeln sie an. Hier pflegt man schnell zu gehen, ein Ziel vor Augen habend. Alexandra kneift die Augen zusammen, die stechenden Sonnenstrahlen sind ihr unerträglich. Sie wankt zu einem Baum, lehnt sich an den Stamm. Das Blut rinnt langsam über ihren Rücken, wird vom Leibchen aufgesogen.

Allmählich fasst sie sich wieder, hält jemanden auf, will wissen, wo die nächste Polizeistation sei. Hektisch deutet der Mann im Anzug „Nach zwei Querstraßen gerade aus an der Ecke!“

Ein langer Weg durch die Häuserschlucht. Die Glasfassaden der Wolkenkratzer reflektieren die Sonne, blenden. Auspuffe rauchen. Der Lärm pocht in ihren Ohren, lässt den Schmerz in ihrem Kopf anschwellen. Sie läuft am Fernsehturm vorbei. Ein paar Meter noch. Endlich erreicht sie das Kommissariat.

„Ich bin überfallen worden!“, radebrecht sie. Sie solle warten, wird ihr gesagt. Ein Ventilator surrt an der Decke, bläst stickige verbrauchte Luft durch den Raum. Ein untersetzter Beamter mit Schnauzbart hört sich ihre Geschichte an, versucht aus ihrem aufgeregten Gestammel den Hergang zu Protokoll zu bringen. Alexandra kann kein Dokument vorweisen. Die Kopie des Passes, erzählt sie, sei bei dem Vorfall abhanden gekommen.

Wie er denn ausgesehen habe der Täter, wird sie gefragt. Alexandra kann sich an fast gar nichts erinnern. Dunkelhaarig, untersetzt, in Jeans und Sandalen. Der Beamte notiert.

Woher sie komme will er wissen. Ob sie jemanden habe in São Paulo. Eine Brieffreundin, bei der sie jetzt zu Gast sei.
„Aus Europa!“ ruft der Beamte entzückt. Über Wien habe er schon einiges gehört, Walzer, Sigmund Freud und so fort. Alexandra lächelt gequält und nickt. São Paulo sei sehr gefährlich, belehrt er Alexandra wohl wollend, sie solle in Zukunft nicht mehr so alleine herumlaufen. Der Täter würde nie gefunden werden, tausende Male pro Tag passiere derlei in dieser Stadt, ganz zu schweigen von den Morden.

Die Nummer ihrer Gastgeberin hat sie auswendig gelernt, zur Sicherheit. Auf der Polizei sei sie, erzählt sie aufgeregt, als der Beamte ihr den Hörer in die Hand drückt. Ein Überfall.
„Ich hol dich dort ab.“
Ihren Pass solle sie mitnehmen, er liege auf der Kommode im Gästezimmer. Eine Beamtin streift sich Gummihandschuhe über die Hände, fährt Alexandra durchs Haar, tupft mit Desinfektionsmittel herum.
„Nichts schlimmes!“ sagt sie gleichgültig.
„Eine kleine Platzwunde!“ Die Beamtin klopft ihr auf die Schulter. So schöne blonde Haare, meint sie, sehe man in Brasilien nur im Süden.

Joana, Alexandras Gastgeberin, kommt im Taxi. Es habe gedauert, der Verkehr sei unerträglich wie üblich.
„Gott sei Dank ist nicht mehr geschehen!“
Joana fischt Alexandras Pass aus ihrer Brusttasche, die sie unter der Bluse verborgen trägt. Der Beamte nimmt die Daten auf. Alexandra erhält eine Kopie des Protokolls.

„Sie waren ganz nett zu mir!“, meint Alexandra, als sie neben ihrer Freundin im Taxi sitzt.
„Zu Touristen aus Europa sind sie fast immer nett. Unsereins wird behandelt wie Dreck!“, seufzt Joana. Alexandra schneuzt sich, der Rotz ist grau von der verschmutzten Luft.

„Aber mitten auf der Avenida Paulista...“, Alexandra hat sich ein wenig beruhigt.
„Komm, heute am Abend machen wir etwas ganz tolles!“

Am Abend fahren sie los, Joana, ihr Verlobter und Alexandra, durchqueren die lärmige Stadt, fahren die Avenida Paulista entlang, Lichterglitzer. Eine schwarze Limousine blockiert den Verkehr, drei schwarz eingehüllte Frauen aus dem Orient entsteigen dem Luxusgefährt. Joana hupt.

Sie fahren die ganze Schlagader der Stadt entlang bis zum Edifício Itália. Ein bewachter Parkplatz, Schmiergeld für den Wächter. Hinauf geht es in den fünfzigsten Stock. Das Restaurant ist vom Feinsten. Ein Platz am Fenster. Unter ihnen ein endloses Lichtermeer. Alexandra will weg von hier, aber jetzt noch nicht.



© C. Timidus, Wien im August 2004

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Dienstag, 31. August 2004
Fritz ist im Fernsehen
Für zehn Sekunden ist Fritz im Fernsehen. Die Kamera ist auf seine fettig glänzende Nase gerichtet. Wie ihm das Fest gefalle, wird er gefragt. Fritz darf - „Tolle Fete. Super, gefällt mir“ - sagen. Geschmeichelt hat es ihm, dem Fritz. Ganz stolz tänzelt er durch das Lokal. Ganz Österreich werde ihn sehen, denkt er. Fritz lächelt.

Froh ist er, so froh, dass er hierher gekommen ist. In der Zeitung ist es gestanden, groß angekündigt als Fest des Monats. Und nun ist er gar im Fernsehen. Welch eine Nacht! Samstag ist es, wenn Wien Rio spielt und nicht schlafen geht bis Sonntagnachmittag. Bumm bumm dröhnt es aus allen Ecken, schweißnasse Tänze und das Fernsehen dann und wann. Mitgefilmt muss werden. Nun ist auch Fritz berühmt, für zehn Sekunden. Tamtaratei! Das Leben ist wunderbar!

Kampfa ist mit ihrer Freundin Konga hier. Spaß haben, es kostet ja viel, der Eintritt, die Getränke. Konga schreit Kampfa ins Ohr. Sie habe die Partnervermittlung verklagt. Kampfas Blicke fragen warum. Halbgötter habe sie im Katalog bestellt. Schließlich wäre immer nur ein Häufchen Mensch erschienen am Treffpunkt. So etwas, brüllt sie, könne man sich nicht gefallen lassen, es koste ja eine Stange Geld. Kampfa nickt und widmet sich dem Lärm, wackelt mit dem Körper. Fritz nähert sich den beiden. Er riecht nach Vorstadt, Konga stößt ihn weg.

Die Fernsehleute huschen durch die zuckende Menge. Schnell, schnell. Die Schanka kommt gerade, die prominente Schanka! Scheinwerfer ergrellen den Saal. Sogar die Schanka ist gekommen! Welch ein Erlebnis! Sie erblitzt im Scheinwerferlicht, hebt das hochhackig beschuhte Beinchen in die Kamera. Voller Bewunderung der Reporter. Er liebedienert die Berühmtheit an. Stellt viele Fragen über ihr Leben. Gefärbtes Blondhaar schüttelt sich gegen die Linse, ein rot glänzender Kussmund spitzt sich in ihrem Gesicht. Schanka steht im Mittelpunkt, entblößt ihre Brüste, lässt sich genussvoll filmen.
„Bin ich nicht schööööön?“, piepst sie der Welt entgegen.

Fritz stellt sich auf die Zehenspitzen, kann einen Blick auf Schanka werfen, für zehn Sekunden. Getrunken hat er auch einiges, der Fritz. Er geht aus dem Lokal. Schön ist es gewesen. Zehn Sekunden im Fernsehen und ein Blick auf die berühmte Schanka.

Hinter ihm drängeln sich Konga und Kampfa. Fritz dreht sich um, sieht die beiden, lächelt sie an.
„Schleich dich, du schiacher!“ Konga ist erbosst.
Fritz ist gekränkt. Ein wenig freundlicher hätte die Ablehnung ausfallen können.
„Ich war im Fernsehen!“, sagt er trotzig.
„Na wenn schon!“, grummelt Kampfa zu sich selbst.

Früher Morgen. Menschen wuseln die Prachtstraße entlang. Lachen, Neon, Lärm. Sich selbst vergessen, auch die Tage, von welchen einer dem anderen gleicht. Schal und leer das Lachen, der Tanz, die wohlbekleideten Leiber, die Arten von Beischlaf, welchem so manche sich noch hingeben werden. Ein Püppchen fürs Leben, das wird erträumt.

Ein schriller Tanz Unbeseelter. Morgengrauen. Prächtige Gemäuer von den Sonnenstrahlen in Gold gehüllt. Koren tragen Gesimse von Portalen; Atlanten und Fabelwesen die Giebel oberhalb der Fenster. Rotgolden schimmern die Kuppeln, die Ziegeldächer. Einstmals war diese Stadt groß gewesen, in den alten Mauern ruht der verblichene Glanz. Zu dieser Stunde kann man einen Hauch davon erfühlen.

Fritz wankt zum Taxistandplatz, fällt auf den Polstersitz. Mit süffisantem Lächeln babbelt er seine Adresse in der Vorstadt. Im Fernsehen sei er gewesen, erzählt er. Mit gähnendem Maul erwidert der Lenker. Gelb getüncht ist die Fassade von Fritz’ Wohnhaus. Hübsch, in sanftem Gelb und Weiß. Drinnen bröckelt der Verputz ab. Eine Glühbirne hängt auf schwarzem Draht von der schimmeligen Decke herab. Am Gang miefelt es nach Zwiebeln, Gebackenem und Gebratenem. Kalte Küchendünste. Geschimpfe in fremden Sprachen, selbst um diese Morgenzeit. Fritz fällt in sein ungemachtes Bett. Er schläft lächelnd ein. Im Fernsehen ist er zu sehen gewesen, für zehn Sekunden.

© C. Timidus, 2003

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Mittwoch, 2. Juni 2004
Der Eunuch
„Hört alle her, der Jahrmarkt kommt", rief der Junge ganz aufgeregt und lief keuchend auf seinen bloßen Füßen durch die Gassen des Dorfes. Ein paar Menschen steckten neugierig ihre Köpfe aus den Fenstern, Kinder liefen aus den Toren der niederen, ärmlichen Häuser und rannten dem Jungen hinterher. „Der Jahrmarkt kommt!", kreischten sie voller Freude. Ein Mann blieb mit seiner Heugabel in der Hand stehen. „Hast du ihn denn gesehen, den Jahrmarkt meine ich", fragte er den Jungen. „Er war auf der Landstraße, dort hab ich ihn gesehen", antwortete der Junge keuchend.

Von der Ferne hörte man schon den Lärm des herannahenden Jahrmarktes. Die Wirtsleute bereiteten die Zimmer vor, denn ein paar von den Schaustellern und Händlern würden sicher im Wirtshaus übernachten wollen, dachten sie. Die Menschen traten aus ihren Häusern hervor und säumten die Hauptstraße des Dorfes, um den Jahrmarkt einziehen zu sehen.

Der Jahrmarkt zog ins Dorf ein. Eine Blaskapelle spielte, Gaukler führten ihre Jonglierkünste vor, bunt gekleidete Zwerge tanzten um die beladenen Wagen, ein dicker, ganz in schwarz gekleideter Mann brüllte durch ein Sprechrohr: „Hört zu ihr Leute, heute zieht der Jahrmarkt ein, kommt alle, seht euch das an, das dürft ihr nicht versäumen!" Die Händler zogen mit ihren von Waren überbeladenen Karren hinter den Schaustellern her.

Der Jahrmarkt schlug seine Zelte ein wenig außerhalb des Dorfes auf. Die Menschen liefen herbei und bestaunten die Feuerschlucker, die Gaukler, die Spaßmacher, die Zwerge, die in ihren bunten Kostümen akrobatische Kunststücke darboten. Einige ließen sich von den Händlern so manch Unnützes andrehen, andere lauschten den Märschen der Blaskapelle. Hinter einem der Marktstände befand sich ein kleines graues Zelt, vor dem der dicke Mann in Schwarz mit seinem Sprechrohr stand. „Kommt her!", rief er, „das gibt es nur bei mir zu sehen, kommt alle her!" Eine kleine Ansammlung von Schaulustigen bildete sich vor dem Zelt. Ein Bauer rief seine Frau zu sich: „was das wohl ist". Es kamen immer mehr Menschen zu dem Zelt. „So etwas habt ihr noch nicht gesehen, kommt her...", brüllte der Dicke. Als sich eine beachtliche Anzahl an Neugierigen vor dem Zelt versammelt hatte, lief er hinein und schrie: „Kaspar, Kapsar, komm du Drecksack." Der Dicke trat aus dem Zelt hervor, hinter ihm humpelte eine Gestalt in schmutzigen Lumpen. Sie näherten sich der Menge. „Seht her, das ist Kaspar", brülle er. Er gab dem Mann einen Fußtritt. „Geh Kaspar, damit man dich auch sehen kann." Kaspar hinkte näher zu der Menge. „Habt ihr schon einmal so etwas Hässliches gesehen?", rief der Dicke und lachte lauthals in die Menge. Die Zuschauer verstummten. Kaspar war einigermaßen groß gewachsen, kahl, sein Körper voll mit Schmutz und Schorf, der rechte Arm endete in einem fleischigen Stummel. Er stand mit bloßen Füßen im Schlamm. Kaspar ging ein wenig herum, schleifte dabei seinen linken Fuß hinterher und stieß ein paar unverständliche Laute aus. Der Dicke fasste ihn bei den Backen und presste seine kleinen klobigen Finger so fest dagegen, dass Kaspar den Mund öffnen musste. Er gab ihm einen Fußtritt und brüllte „Mund auf, du Sack". Kapsar sperrte seinen Mund weit auf. „Seht her, er hat keine Zunge, die hat man ihm herausgeschnitten, dort im Straflager", kreischte der Dicke. Die Menge begann zu lachen. „Keine Zunge, haha, seht her, er hat keine Zunge!"

„Er hat das Straflager überlebt, diese Kreatur, seht nur her wie hässlich er ist", höhnte der Dicke und versetzte ihm noch einen Tritt. Er stieß Kaspar noch näher zur Menge hin, sodass diejenigen, die weiter vorne standen, die Narben in Kaspars Gesicht sehen konnten. „Seht die Narben, oh ist der hässlich", riefen einige. „Und jetzt, jetzt seht her, das ist so hässlich, dass ihr es kaum woanders sehen könnt", johlte der Dicke. Er schlug Kaspar ins Gesicht und befahl ihm, sich seiner Lumpen zu entledigen. „Na los doch", kreischte er, „zeig den Leuten, was sie mit dir dort gemacht haben!" Kaspar schüttelte den Kopf, gab heftige Laute von sich, versuchte dem Dicken davonzuhumpeln und fiel auf den schlammigen Boden. Die Zuschauer lachten und grölten. Kaspar bekam ein paar Tritte von seinem Peiniger und stand wieder auf. Der Dicke zog ihm die vom Schlamm durchdrängte Hose herunter, die nur durch eine schäbige Kordel an seinem Körper gehalten wurde. Die Schaulustigen verstummten. Kaspar bedeckte seinen Unterleib mit der Hand und dem Stummel. Der Dicke zog ihm die Hand weg und gab ihm noch einen Tritt. Kaspar stand nun vollends entblößt vor der staunenden Menge. „Er ist ja verschnitten wie ein Ochs!", brüllte einer. Die Zuseher begannen schallend zu lachen. Sie näherten sich ihm, streckten ihre Arme aus und versuchten seinen entstellen Unterleib zu betasten. „Ein Eunuch", grölte eine Frau. „Nun liebe Leut, so etwas habt ihr noch nicht gesehen, gebt ein paar Münzen für die Darbietung", brüllte der Dicke zufrieden durch das Sprechrohr. „Tanz Kaspar, tanz für uns", johlte einer in der Menge. „Ja, tanz", begannen andere zu rufen. Einer kam mit einem Gefäß heißer Kohlen herangeeilt. Man begann mit den Kohlen nach ihm zu werfen. Kaspar versuchte davonzulaufen, fiel aber auf den Boden. Er humpelte zum Zelt, doch der Dicke ließ ihn nicht hinein und stieß ihn weg. Dann kauerte sich Kaspar nieder und hielt beide Arme vor sein Gesicht, Tränen rannen ihm über die Wangen. In der grölenden Menge stand ein Bauer, beugte sich zu seiner Frau, flüsterte ihr zu: „geh, hol Geld, schnell!" Er rieb sich das Kinn, beobachtete nachdenklich, was rund um ihn geschah. „Was verlangst du für den Eunuchen?", rief plötzlich der Bauer. „Sag mir, was du für ihn verlangst!" Der Dicke bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen und ging zu dem Bauern. „Dem Pfaffen hab ich fünfhundert gegeben", sagte er. „Ich gebe dir drei Goldmünzen, mehr hab ich nicht", antwortete der Bauer. „Gib mir die drei Goldmünzen, damit kann ich ein Tier für die Schaudarbietungen kaufen!" Der Dicke grinste.

Die Bäuerin ging zu Kaspar und legte um ihn eine Decke, die sie mitgenommen hatte, als sie zum Hof ging, um die Münzen zu holen. Die Zuschauer verflüchtigten sich indessen nach und nach. Der Dicke ging zufrieden zurück in sein Zelt und ließ die Goldmünzen in seiner Hand klimpern. Der Bauer legte Kaspars Arm über seine Schulter. „So, du bleibst jetzt bei uns", brummte er.

Sie kamen zum Gehöft. Im Haus wurde der Kamin angezündet. Die Bäuerin stand beim Herd und bereite das Abendmahl. Der Bauer kam mit einem Hemd und einer Hose. Er legte sie Kapsar an. „Müsste passen", grummelte er zu sich selbst. Kaspar lächelte und nickte unentwegt. Er gab ein paar leise Töne von sich. Als sie bei Tisch saßen, wurde kaum gesprochen. Für Kaspar hatte die Bäuerin das Fleisch in kleine Stücke geschnitten, damit er es leichter verzehren konnte. Kaspar saß da in seinen neuen Kleidern, schmatzte und seine Augen wurden lebhaft. „Kannst hier bleiben, hörst du!", sagte der Bauer, die Bäuerin nickte. „Brauchst nichts zu machen", brummte er.

Die Bäuerin führte Kaspar die Treppen hinauf. Oben befand sich ein weiß gekalkter Gang und drei Holztüren. Die Bäuerin öffnete die Erste gleich bei der Treppe. Das Zimmer war klein, die Wände weiß gekalkt wie der Gang, es hatte einen hellen Holzfußboden. Ein frisch gemachtes Bett und ein großer Kasten aus dunklem Holz standen darin. „Hier ist dein Zimmer", sagte die Bäuerin.

Kaspar legte sich auf das Bett, nahm den angenehm nach Waschlauge riechenden Kopfpolster und presste ihn ganz fest zwischen seine Arme. Er hatte keine Hoffnung mehr gehabt und im Augenblick seiner größten Verzweiflung ward ihm ein Geschenk zuteil, das er nicht begreifen konnte. Als er plötzlich mit seinen Kommilitonen von den Soldaten geholt wurde, als sie ihn ins Straflager brachten, ohne dass er den Grund dafür kannte, als er gezwungen war, mitanzusehen, wie seine Kammeraden umgebracht wurden, einer nach dem anderen, als er die Folter und die Demütigungen zu ertragen hatte, als sie ihm den Arm abhackten, das Geschlecht wegschnitten, das Gesicht entstellten, ihm die Zunge herausschnitten, war keine Hoffnung in ihm. Als sie ihn aus dem Lager entließen, als er von einem Pfarrer aufgenommen wurde, der ihn schlug, demütigte und sich an ihm verging, als er an den Dicken verkauft wurde, als er das Elend, die Qualen während der Hatz der grölenden Mengen zu erdulden hatte, empfand er nur tiefste Verzweiflung ob eines Schicksals, aus dem es kein Entrinnen gab. Nun lag er in einem Bett, in einem Zimmer, in unbeschreiblichem Frieden und mit der Dankbarkeit eines Geretteten. Er schlief ein, die Lippen zu einem ganz sachten Lächeln geformt.

Am nächsten Morgen klopfte die Bäuerin an Kaspars Tür. Es rührte sich nichts. Nach einer Weile trat sie ein und sah Kaspar im Bett liegen, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Kaspar" sagte sie, „das Frühstück wird kalt." Kaspar rührte sich nicht. Sie rüttelte ihn, doch er erwachte nicht. Sie strich ihm übers Gesicht und spürte, dass es kalt war. Kaspar war tot.



© C.Timidus, Juli 2002

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Mittwoch, 12. Mai 2004
Liebe im einundzwanzigsten Jahrhundert
John lag in tiefem Schlaf. Karla beobachtete ihn, wie er so dalag, wie sich sein Brustkorb in langsamen Zügen hob und senkte. Sanft strich sie ihm durch sein rotblondes Haar. Das Fenster war zur Gänze geöffnet. Die Hitze der Stadt war dumpf und erdrückend. Morgen würden sie ihre letzten Stunden zusammen verbringen. John musste weg, beruflich, für sehr lange Zeit, würde auch nie mehr zurückkommen. Wegen Karla wollte und konnte er seine Laufbahn nicht aufgeben, obwohl sie sich das sehnlichst gewünscht hatte. Wütend war sie nicht, sie liebte ihn ja. Traurig war sie, niedergeschlagen, weil es nicht und nicht klappen wollte mit dem Leben, mit der immer währenden Liebe. Stets ging irgendetwas schief. Bald würde die Sonne aufgehen, der Wecker läuten, den letzten Kaffee würden sie zusammen trinken. Karla stand auf, ging ans Fenster, starrte in den Innenhof, auf die Häuser gegenüber. Die Fenster standen sperrangelweit offen, um die etwas erträglichere Nachtluft in die stickigen Wohnungen zu lassen. Efeu rankte sich an den Mauern des Hauses gegenüber hoch, fast bis zum Dach hinauf. Schnarchen war zu hören. In einer Wohnung brannte schon Licht. Ein Mann und eine Frau bewegten sich schlaftrunken in Pyjama und Nachthemd zur Zimmertüre und verschwanden. Verkehrslärm drang schon ganz sachte in den Hinterhof der kleinen Seitengasse. Karla setzte sich auf die Bettkante, nahm das Päckchen Zigaretten aus ihrer Nachttischlade, klopfte mit dem Zeigefinger gegen den Boden der zerknitterten Packung und zog eine leicht verbogene Zigarette heraus. Drei Mal rollte sie mit ihrem Daumen das gezahnte Rädchen des kleinen Plastikfeuerzeuges, bis es endliche eine Flamme schlug. Die qualmende Zigarette fest zwischen Zeige- und Mittelfinger gepresst, ging sie wieder zum Fenster, lehnte sich hinaus, sog den Rauch ein und staubte die Asche in den Hof.

Karla hatte nicht geschlafen, zog es vor, wach zu bleiben, um John beim Schlafen zuzusehen. Nur ein halbes Jahr hatte ihr Zusammensein gedauert. Oft hatten sie sich nicht gesehen, da John ja auf Geheiß der Firma nur zum Arbeiten nach Wien gekommen war. Deshalb verbrachte er viele Abende und Wochenenden im Büro. Doch die raren Momente, die sie miteinander in Karlas kleiner Altbauwohnung teilten, waren für sie die glücklichsten, die sie bisher erlebt hatte. Die Sonne war am Aufgehen. Der Hinterhof, die efeuumwucherten Häuserwände in tiefrotes Licht gehüllt. Vögel sangen.

Karla stellte den Wasserkessel zu, drückte den Papierfilter in den weißen Porzellantrichter, schüttete mit einem Schäufelchen Kaffee in den Filter, goss mit kochendem Wasser auf. Es sollte ein richtiges Wiener Frühstück werden. Seufzend legte sie die am Vortag besorgten Semmeln und Butterkipferln in das Rohr. Von der durchwachten Nacht war ein dumpfes Brummen in ihrem Schädel. Aus dem Schlafzimmer hörte sie den Wecker piepsen. Hurtig zog sie sich den Bademantel über das weiße, viel zu große T-Shirt, das ihr als Nachthemd diente. Fluchend nahm sie die leicht angebrannten Semmeln und Kipferl aus dem Rohr, kratzte die dunkelbraune Kruste mit einem Messer weg. John war in der Küche erschienen, in Boxershorts und gelbem Leibchen, auf dem „Almhudler" stand. „Oh, Frühstück", stellte er, erfreut die Augenbrauen hochziehend, fest. Karla schenkte Kaffee in die klobigen Tassen. Sie saßen einander gegenüber und schwiegen. John blickte ihr nicht in die Augen, rührte nur mit dem Löffel laut gegen die Tasse klimpernd in seinem Kaffee, tauchte das Ende des Kipferls ins Marmeladeglas und biss ins sacht knuspernde Gebäck. Die Morgensonne stach durch das Fenster. „Heiß wird es heute", flüsterte Karla. Sie versuchte, Johns Augen zu erhaschen. Er senkte seinen Kopf zum Teller, auf dem das angebissene Kipferl lag.

„Werd mir ein Taxi nehmen, brauchst nicht mitzufahren." John wandte den Blick nicht vom Teller ab. Karla war enttäuscht, versuchte ihn zu überreden, sie mitfahren zu lassen. John lehnte ab, da er, wie er meinte, Abschiedsszenen hasse. Seufzend erhob sich Karla von ihrem wackeligen Küchenhocker. Den Platz auf der kleinen, gepolsterten Bank hatte sie John überlassen. Sich die Augen reibend ging sie ins Badezimmer. Missmutig klopfte sie wie jeden Morgen gegen die zwei lockeren azurblauen Fliesen an der Wand, die leicht aus dem glatten, weiß-blauen Gefüge hervorstanden. Karla konnte das morgendliche Bad nicht so genießen, wie sie es sonst tat. John klopfte gegen die Badezimmertüre, er habe es schon ein wenig eilig, brummte er. Als Karla heraustrat, sah sie seinen schwarzen Koffer vor der Schlafzimmertüre stehen. Bleierne Schwermut überkam sie. Sie würde ihn wahrscheinlich nie wieder sehen, auch kaum von ihm hören. Zu beschäftigt würde er dort in Delhi sein, wohin man ihn für das nächste halbe Jahr gesandt hatte. Ihr Studium der Klassischen Philologie würde sie auch sehr in Anspruch nehmen, und ihre Teilzeitstelle im Reisebüro musste mit ihren Vorlesungen in Einklang gebracht werden. Ferner hatte sie ihre Diplomarbeit in Angriff zu nehmen. Beschäftigt würde sie sein, ohne Zweifel. Hinzu kam noch die Distanz. Karla wusste, ein, zwei Briefe, Emails und möglicherweise eine Karte zu Weihnachten würden vielleicht noch kommen, dann nichts mehr. Unter heftigem Trennungsschmerz litt sie nicht. Die Kehle schnürte sich ihr nicht zu. Auch keine Wut, kein Drang zum Weinen. Nur diese bleierne Schwermut, die sie zu erdrücken drohte. Mit nassen Haaren und einem Handtuch um seine Hüften geknotet, kam er aus dem Badezimmer, fragte nach seinen Hosen, seinem Hemd. Karla legte die Kleidungsstücke säuberlich zusammengelegt in seine Hände. „Da, ich hab’s dir gestern noch gewaschen", flüsterte sie auf Deutsch. Er verstand sie nicht, wollte wissen, warum sie immer irgendetwas in ihrer Sprache murmeln müsse, wo sie doch wisse, dass er kaum etwas verstünde. „Ihr seid schon irgendwie komisch", sagte er auf Englisch, schüttelte den Kopf und ging ins Wohnzimmer, um sich anzuziehen. „In Indien wird’s noch viel komischer", feixte sie ihm nach. Karla bestellte das Taxi. Er stand bei der Türe, den Griff des Koffers mit seinen Fingern umfassend. „Soll ich nicht mitfahren? Lass mich doch mitfahren!" „Ich will das nicht", wehrte er ab.

Zum Abschied umarmte er sie nochmals, strich ihr über die dunkelbraunen Locken, strich sanft über ihr schmales Gesicht, fuhr mit dem Zeigefinger sachte über ihre Stupsnase, ihren fülligen Mund. „Leb wohl", flüsterte er und öffnete die Türe. Sie blickte ihm noch nach, wie er zum Aufzug ging. Als er hinter der Gittertüre des Fahrkorbs verschwand, drehte sich Karla schließlich um. „Das war’s", dachte sie, und als sie die Marmeladeflecken, die er auf der Tischplatte hinterlassen hatte, wegwischte, musste sie Abschied von einem halben Jahr Glück nehmen. Nun war sie alleine mit ihrer Schwermut, ihrer Sehnsucht nach dem soeben vergangenen halben Jahr, nach all den Momenten, in welchen für sie das Leben leicht, heiter, einfach wunderbar gewesen war. Sie, Karla Gruber, war ein halbes Jahr lang verliebt und glücklich gewesen, glücklicher als niemals zuvor in ihrem Leben.

Da sich Karla im Reisebüro frei genommen hatte, in der Annahme, sie könne John zum Flughafen begleiten, beschloss sie, den Tag draußen zu verbringen, zu ein paar Plätzen zu fahren, wo sie mit John öfters gewesen war.

Stickig und heiß war die Luft im Bus, obwohl man alle Fenster geöffnet hatte. Die Sonne brannte in voller Sommerglut. Die Allee entlang des Ringes prangte in vollem, sattem Grün, Menschen saßen im Gras des Volksgartens. Karla schlenderte vorbei an den grün gestrichenen Holzsesseln vor den großen Rosenstöcken, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. In der Meierei hatten sie manchmal gesessen, als der Frühling hereinbrach, sie und John. Damals wollte sie das Ende nicht wahrhaben, es lag weit entfernt. Sie hegte Hoffnungen, dass er doch bleiben würde, obwohl er ihr von Anfang an eröffnet hatte, dass er nach einem halben Jahr wieder weg müsse aus Wien. Unter den Bäumen der Ringstraße spazierten sie im Frühling. John blickte meistens auf die wuchtigen Gesimse der Palais, auf die von finster blickenden, feisten Atlanten aus Stein getragenen Balkone und Erker, auf die hohen, breiten Fenster mit ihren vielen Verstrebungen, die kräftigen Koren und Amazonen, die gebeugten Nackens Torsimse und wuchtig verzierte Söller auf ihren Schultern trugen. Beim Michaelertor waren sie manchmal gestanden, neben einem der Wandbrunnen, wo kämpfende Riesen mit schmerzverzerrten Gesichtern Wasser speien. John sah dann immer zu der patinagrünen Kuppel des Michaelertores hinauf. Doch er konnte sich nicht ganz an das pompöse, ernste Antlitz einer einstmals mächtigen Stadt gewöhnen.

Die wenige Zeit, die ihm nach seiner Arbeit verblieben war, verbrachte er mit Karla. Er, der aus Boston kam, niemanden in der ihm fremden Stadt kannte, wollte nicht einsam sein. Sie liebte ihn über alles. Nun ging Karla durch die Gassen, in welchen sie mit ihm Hand in Hand geschlendert war. Schritt durch Durchgänge mit Antiquitätenläden, die so manch Wunderliches in den Auslagen ausstellen, an Allerweltsgeschäften vorbei, die sich wie Fremdkörper in die stuckverbrämten Gemäuer eingenistet hatten. John, dachte Karla, sei ein wenig froh gewesen, dass er an einen anderen Ort versetzt wurde, der ihm vermutlich noch fremder sein würde als Wien. Karla lief den ganzen Tag durch die Stadt, bis die Sonne langsam am Untergehen war. Ging bis zu ihrer Wohnung, die Abendluft senkte sich schwer über die Dächer, schmeckte bittersüß nach Erinnerungen.

Eine Woche verging, Karla ging ihrem Tagewerk nach, lernte, arbeitete und schrieb an ihrer Diplomarbeit. Sie dachte dauernd an John. Wehmütig malte sie sich aus, wie es gewesen sein könnte, wäre er geblieben. Er schrieb nicht, auch nach drei Wochen nicht. Karla fühlte sich nicht wohl, ihr war oft übel. Manchmal bekam sie leichte Schwindelanfälle. Schließlich ließ sie sich untersuchen und erfuhr, dass sie ein Kind erwartete. Karla war wieder glücklich, schrieb John die Nachricht jeden Tag an seine permanente Emailadresse, die er von überall abrufen konnte. Karla wartete sehnlichst auf Antwort. John meldete sich nicht. Sie wartete geduldig, Monate lang. Als sie eines Abends alleine zu Hause saß, nachdem sie erwartungsvoll den Postkasten geöffnet hatte, der nur bunte Prospekte enthielt, sie wieder im Minutentakt ihre elektronische Post abgerufen hatte, ohne Nachricht von John zu erhalten, gab sie die Hoffnung auf. „Wir werden das schon schaffen, wir zwei...", sagte sie zu sich selbst, strich sacht mit der Hand über den Bauch und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen.


© C. Timidus, Februar 2003

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Montag, 5. April 2004
Zenendas Geheimnis
Zenenda sitzt an der Bar, die Ellbogen am Tresen gestützt. Rotwein schillert im Licht der Lampe über ihr, im hochstieligen Glas. Fein gemacht hat sich Zenenda, ein hübsches Kleid trägt sie, hebt es für ihre Wochenenden auf. Schonen muss man das Gewand, das Geld hat zu reichen, viel für die Robe auszugeben darf sich Zenenda nicht erlauben.

Pechschwarzes Haar sorgfältig gekämmt, zu einem kleinen Kunstwerk nach hinten gesteckt. Am Wochenende ist Zenenda herausgeputzt. Rento steht hinter der Bar, nimmt den Aschenbecher, leert rot umrandete Kippen in eine Tonne. Ein Gläschen könne sie sich noch gönnen. Schelmisch sein Lächeln. Zenenda kann nicht widerstehen und nickt.

Früh pflegt sie die Bar aufzusuchen, samstags, zu einer Stunde, da kaum Gäste dort sind. Rento ist ein wenig gelangweilt. Noch ist nicht viel zu tun. Ein Seufzen, ein Blick auf die Uhr an der Wand. Wie denn ihre Woche gewesen sei, fragt er beiläufig.

„Wie immer", Zenendas Arbeit und ihre Einsamkeit. Strampeln, den Kopf über den Wasserspiegel halten, umringt von verschlagen lächelnden Feinden. Bleierne Schwere am Abend, verlassen in den Nächten, in eine Steppdecke gewickelt. Blühende Zimmerveilchen, der Blick auf die zarten Gebilde, eine kleine Freude vor dem Schlafengehen.

Zenenda kommt Rentos wegen. Setzt sich an die Bar auf ihren angestammten Hocker, auf dass sie ihm nachblicken könne, heimlich, verstohlen, wenn er Getränke aus den Flaschen zapft. In manchen Nächten mag der Schlaf nicht kommen, da denkt Zenenda an Rento, sieht sein Antlitz vor sich, die wohlgestalte Zeichnung der zinnoberfarbenen Lippen, die blauen Augen, den kurzen, blonden Spitzbart, sein Haar im Bürstenschnitt, den kleinen Bauch, welcher das Hemd sachte wölbt. So kommt schließlich der Schlaf, süß und sanft, hebt sie behutsam in das Reich der Träume.

Samstags ist Zenenda aufgeregt, darf sie doch Rento wieder sehen. Bisweilen schenkt er ihr ein Lächeln. Doch gibt er es allen, ist schließlich Teil des Gewerbes. Zenenda weiß das, insgeheim träumt sie jedoch, es sei besonders, eigens für sie. Gäste treten ein, die Bar füllt sich mit Lärmenden, Lachenden, Scherzenden. Rento ist nun sehr beschäftigt, schenkt in Gläser ein, trägt sie auf einem Tablett zu den Tischen, stellt sie an die Theke. Zenenda trinkt, alleine, stumm, lässt ihre Augen ihm folgen.

Stunden vergehen, im Dunst, im Rauch, im leichten Rausch. Der Wein erheitert ihr Gemüt ein wenig, macht sie träumen, macht sie lächeln, stumm in das Glitzerspiel am schwarzen Lack der Theke hinein. Rauchige Klänge aus den Lautsprechern. Schneller scheinen sich die Zeiger der Uhr zu drehen. Es ist der Wein, welcher zu Kopf steigt, das Draußen vergessen lässt und stattdessen Träume zaubert. Stunden zerfließen, rinnen immer schneller. Die Bar leert sich allmählich. Zenenda bleibt, bittet Rento um Kaffee. Abermals ein Lächeln, diesmal ist es für sie. Die Lärmenden sind inzwischen gegangen. Zenenda ist nun alleine mit Rento. Die letzten Klänge, das Zischen der Kaffeemaschine. Er dreht das Licht ab, knipst eine Lampe hinter dem Tresen an, zählt Münzen und Scheine. Kurz blickt er auf. Ein langer Blick in ihre Augen. Nur das Surren der Belüftung ist zu hören.

Ob er denn jemanden habe, möchte Zenenda wissen. Ein verschmitztes Lächeln. Nur so eine Zwischengeschichte, wie er es einschätze, aber es könnte etwas daraus werden. Zenenda ist ernüchtert. Rentos Antwort und der Mokka.

Möge er doch berühren mit seinem Mund den ihren. Neuerlich treffen sich der beiden Blicke, für einen Moment, tief sieht einer in den anderen. Beinahe meint sie sein Herz zu erkennen in den blauen Augen. Sollte sie ihm gestehen, dass sie ihn liebe?

Er müsse jetzt sperren, sagt Rento. Zenenda bezahlt. Rento hilft ihr in den Mantel, hält inne, als sie in die Ärmel schlüpft. Sachte umfasst er ihre Hüfte, zart, kaum merklich ist die Berührung seiner Lippen auf ihren Mund. Es sei Zeit zu gehen, bevor noch etwas bereuenswertes geschehe, sagt er. Zenenda nickt, knöpft den Mantel zu. Sie solle bloß niemanden von den Gästen etwas erzählen, wenn sie wieder komme. Ein Geheimnis solle es bleiben, der sanfte, zarte Kuss. Seine Freundin könnte dahinter kommen, kennt sie doch einige der Gäste. Zenenda verlässt die Bar. Dunkel sind die Straßen, in ein paar Fenstern schimmert noch Licht. Eisige Winterstille. Weißes Mondlicht spiegelt sich im von Nieselregen benetzten Asphalt.

Zenenda hört den Takt ihrer Schritte. Lächelnd blickt sie zum Mond. Hat sie doch ein zartes Geheimnis.

© C. Timidus, 2003

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Dienstag, 16. März 2004
Bahnhof Porta Nuova
Nervös tappte Giulio von einem Fuß auf den anderen. Den Blumenstrauß umklammerte er fest mit seiner Hand. Menschen tummelten sich auf den Bahnsteigen des Turiner Hauptbahnhofes, Carabinieri streiften mit ernster Miene durch die Menge. Ob ihr seine neue Frisur gefallen würde? Sein dunkelbraunes Haar hatte er ganz kurz schneiden lassen. Statt der Brillen trug er die Kontaktlinsen, die er ausgesprochen selten verwendete, da sie ihm unangenehm waren. Zu diesem besonderen Anlass nahm er das Unbequeme auf sich, sehe er doch unbebrillt besser aus, fand er. Einen neuen Anzug hatte er eigens für diesen Tag erworben, selbst die Rasur ließ er vom Friseur machen.

Ob sie „ja" sagen würde? Wieder und wieder hatte er seinen Heiratsantrag in ihrer Sprache eingeübt. Er würde sie gleich am Bahnsteig fragen, nachdem sie ausgestiegen war. Was, wenn sie „nein" sagte. Giulio verwarf den Gedanken augenblicklich.

„Ahm, sagen Sie mal, der Eilzug aus Mailand, ist der ausnahmsweise mal pünktlich?", fragte er den Eisenbahnbeamten, der gerade an ihm vorbeiging.
„Ist schon da. Allerdings auf Gleis fünf.", antwortete der Beamte.

„Verdammt!", fluchte Giulio und eilte zum anderen Bahnsteig. Dass nicht einmal die Angaben auf der Anzeigetafel stimmten. Er ärgerte sich. Giulio hatte den Moment von Monikas Ankunft tags zuvor genau geplant, es sollte ein ganz besonderer Augenblick werden, der schönste in beider Leben.

Eigentlich hätte sie ihn am Mobiltelefon anrufen können, als sie den Anschlusszug in Mailand bestieg. Giulio war plötzlich unsicher. Er versuchte sie in der Menge ausfindig zu machen, lief den Bahnsteig auf und ab, betrachtete die Aussteigenden, blickte angespannt zu den Fenstern der Wagone. Er konnte Monika nicht ausfindig machen. Sie sei einfach nicht gekommen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ob ihr womöglich etwas zugestoßen sei? Empfand sie überhaupt so viel für ihn? Liebte sie ihn so wie er sie? Wahrscheinlich, mutmaßte er, habe sie einfach den Zug versäumt. Gewiss würde sie im nächsten sitzen, versuchte er sich zu beruhigen.

In einer Stunde würde er nochmals zum Bahnsteig gehen und inzwischen eine kleine Stärkung einnehmen, dachte er. Giulio ging durch die Bahnhofshalle. Neben dem Informationsschalter stand Monika an die Wand gelehnt und blickte missmutig auf die Uhr. Sein Herz begann heftig zu pochen, als er sie erblickte. Für einen kurzen Augenblick hielt er inne und betrachtete sie. Monika stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ist man denn hier niemals pünktlich!", dachte sie ein wenig ärgerlich.

Giulio eilte auf sie zu. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln der Zuneigung, als sie ihn erblickte.

Sie war doch gekommen. Sein Herz raste in freudiger Aufregung. Er dürfe es einfach nicht vermasseln. Einen tiefen Atemzug machte er, bevor er zu ihr ging.
„Wo warst du denn?", fragte er und umarmte sie. Den Blumenstrauß hatte er noch in der Hand.
„Ich dachte, hier findest du mich leichter. Da war so ein Gewühl am Bahnsteig."
„Sind für dich!", flüsterte er schüchtern.
„Und willehst duu misch..." der Antrag auf Deutsch war ihm trotz des wiederholten Übens entfallen. Giulio begann zu stottern und errötete. Betreten blickte er zu Boden. Monika musste lachen. Da stand Giulio vor ihr, einen etwas mitgenommenen Blumenstrauß in zitternden Händen haltend und wusste weder ein noch aus.

„Ich möchte aber lieber in Wien heiraten, wenn’s dir nichts ausmacht." Monika umarmte ihn. Er war ihr zuvorgekommen. Eigentlich wollte sie diejenige sein, die den Antrag machte. Ferner wollte sie noch ein wenig warten, aber da es nun einmal ausgesprochen war, dachte sie, sei auch jetzt in Ordnung. Es war ihr ernst mit Giulio.

Giulio nahm ihre Reisetasche und gab ihr einen Kuss. Monika betrachtete liebevoll den Blumenstrauß, als sie den lauten Knall hörte und die Druckwelle spürte. Sie fühlte Giulios Hand, als es ihr schwarz vor den Augen wurde.

© C. Timidus, Wien im März 2004

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Donnerstag, 15. Jänner 2004
Zizi geht einkaufen
Gut gelaunt ist Zizi heute. Das neue Einkaufszentrum wird eingeweiht, ein wunderbarer Tag. Gesinge, Geklinge, der Bürgermeister auf der Tribüne. Kurz ist seine Rede, er wolle doch die Feier nicht mit langatmigen Worten stören, er danke jedenfalls den Konzernen.

Rechtzeitig haben sie es noch geschafft, Zizi und ihre Freundin Dada. Im neuen Automobil mit beheizten Ledersitzen. Rasch ein Blick in den Rückspiegel, die Perlonperücke von Bulubul sitzt perfekt. Bulubul muss man besitzen, Dada trägt nur eine Haarspange jener Marke. Es ist sich nicht ausgegangen mit dem Geld, sonst hätte Dada auch eine Perlonperücke wie Zizi. So ist es eben bei der Plastikhaarspange geblieben, in gelb und rosarot.

Sie haben den Beginn verpasst, laufen eilig in die neu eröffnete Wunderwelt. Glänzend in Marmor die Wände, der Boden, edler Stahl im Licht der Lampen, blank poliert die Schaufenster. Die Bühne glüht im Scheinwerferlicht. Wächserne Ebenmäßige harren der groß angekündigten Darbietung. Einer neben dem anderen. Es ist kaum mehr Platz. Zizi und Dada drängeln sich nach vorne. Getöse, ein Tusch, ein Lichtspiel mit dem Markenzeichen von Pampu Kosmetik.

Mumu, der berühmte Mumu, habe sich bereit erklärt, seine neueste Nummer hier darzubieten. Blechern und süß die Stimme aus Hunderten von Lautsprechern, die Ankündigung des Festtages. Rufe der Entzückung, Gestöhne, Schreie der Freude. Die Wächsernen sind hingerissen. Vollständig in Neusprech werde er singen, zu neuen Takten. Zizi ist begeistert, Dada ebenfalls.

Die ersten Hämmertöne schlagen an. Nach vorn und zurück wippen die Ebenmäßigen, im Rhythmus, hin und her. Mumu erscheint im Glitzerkostüm, ergreift das Mikrofon. „Faka faka machen mit du", ein Welterfolg. Erregt bebt die Menge, schreit den Text des Liedes. Nach zwei Minuten beendet Mumu den Rausch aus Tönen.

Zwei Nummern werden noch angekündigt, erfreuen sich nicht so großer Beliebtheit. Alt seien die Lieder, meint Zizi und Dada stimmt zu. Die Menge zerstreut sich allmählich, Mumu singt vor ein paar lustlos Wippenden.

Schöne Dinge werden am flachen Bildschirm vorgestellt. Kremen von Pampu, neue Garderobe von Lullo. Zizi muss diese haben, betritt ein Geschäft, probiert, bezahlt. Dada steht daneben, beobachtet ihre Freundin, sieht sich schließlich nach zu Erwerbendem um. Ein Leibchen geht sich für sie aus, selbst wenn die Kreditkarte überzogen wird. Dada kann mithalten, ein wenig zumindest, lächelt deshalb. Heute ist auch sie glücklich, so glücklich wie Zizi. Vergnügt und heiter schlendern die beiden durch die Menge, ein wenig Kosmetik, eine Plastikuhr in Stirnbandform, für die kalten Tage, von Hompo, fein und teuer. Eine Folge der Serie Plimp flimmert über die Bildschirme. Babompa, die schönste Darstellerin aller Zeiten, weint, abgewiesen vom stählernen Helden. Schlimm, meint Zizi, auch Dada hat Mitleid mit der bewunderten Bapomba.

Abermals Geklinge, Gesinge, schließlich die honigsüße Blechstimme. Es wird gelauscht. Intimschau einer Kette für Koitalwaren in wenigen Minuten. Die Ankündigung des Tages, viel versprechender noch als Mumu. Hurtig strömen die Ebenmäßigen zur Bühne. Zizi nimmt Dada bei der Hand, nimmt noch eine Dose Üpsom mit auf den Weg, reicht der Freundin während des Eilens das Getränk. Dada verschluckt sich, speit gezuckerte Flüssigkeit zu Boden. Trommeln lärmen aus digitalen Maschinen. Ein Muskulöser im Lederanzug tanzt auf der Bühne. Mit einem Ruck ist das ärmellose Oberteil heruntergerissen. Die linke Brustwarze trägt er durchstochen von einem Eisenring. Zwei Tänzerinnen erscheinen. Stahlspitzen tragen sie an ihren Brüsten. Ihre Hüften kreisen um den Muskelkörper. Wollüstig zerren sie an dem Eisenring. Mumus Lied wird gespielt. „Faka faka machen mit du". Noch ein Tänzer, schlank, zart, nackt. Kleine, zierliche Gewichte baumeln an seinem Gemächt. Die Masse gerät in Hitze, bebt. Blusen werden aufgeknöpft, Hemden von Leibern gerissen. Hände berühren andere Körper, fahren lüstern auf Haut, berühren durch Stoff Gesäße, Geschlechter. Man könne in der Filiale im anderen Flügel auf Ebene Tse Faka faka machen, später die Erzeugnisse zum Sonderpreis erwerben, wispert die Blechstimme. Kreischend tobt die Masse, setzt sich in Bewegung. „Faka faka machen!"

Zizi ist entbrannt in Lust. „Faka faka machen!" Im Rausch lässt sie sich laufen von der Masse. Dada möchte eine Prise Lolo, hätte sie sich doch nur eine Packung gekauft. Lolo tut so gut, aber sie konnte ja nicht wissen, dass die Schau so großartig sein würde. Neuerlich Mumus Nummer, wieder und wieder. Alle rennen. Dada stolpert, fällt zu Boden. Niemanden kümmert es. In Hitze geraten, trampeln sie im Feuer der Erwartung über Dada, mit wunderlich starren Blicken ins Kommende. Sie schreit, brüllt. Ungehört bleiben die Schmerzensrufe. „Faka faka machen mit du", erhallt das Gejohle, lässt Dada unbemerkt ihr Leben aushauchen. Zu Brei getrampelt wird sie. Zizi hat sich nicht nach ihr umgesehen. „Faka faka machen", grölen sie, „Faka faka machen!"

© C. Timidus Wien im November 2003

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Mittwoch, 7. Jänner 2004
Frunz schläft
Frunz schläft, verfrunzt sein Leben vor dem Fernsehgerät. Er isst und schläft. Fett ist er, der Frunz, vom vielen Liegen, vom vielen Essen und stinkt nach Schweiß. Bunte Bilder an sich vorbeizischen lassend, döst er vor sich hin, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Ändern will er sich nicht, hat er es doch schon längst aufgegeben, an der Welt teilzuhaben. Sie hat ihn ausgespien vor einigen Jahren, war der Ansicht, jemanden wie Frunz brauche sie nicht. Seitdem verfrunzt er.

Kinzi ist das Kind von Frunz’ Nachbarin Kara. Die Kleine geht zur Schule, die sie nicht mag. Ihre Mutter hat wenig Geld, lässt sich tagein, tagaus quälen, von ekelhaften Vorgesetzten und widerlichen Kollegen. Am Nachmittag holt sie Kinzi von der Schule ab. Montags bis Samstags. Kara ist abgehetzt, nicht nur von Montag bis Samstag, auch an manchem Sonntag. Am Samstag wird sie zuweilen angerufen und erfährt, dass sie sonntags zur Arbeit muss. In einem großen Kaufhaus dreht sie gegen ihren Willen Menschen Fetzen an, die lustlos von silber glitzernden Kleiderhaken herunterhängen. Kinzi kommt dann zur Großmutter.

Diesmal möchte die Lehrerin mit Kara sprechen. Kinzi sei so unaufmerksam, interessiere sich nicht für den Unterricht, nehme nicht daran teil. Kara zuckt mit den Achseln. Einkaufen gehen muss sie noch, kochen, Kinzi betreuen. Vielleicht liegt’s am Unterricht möchte sie sagen, verkneift es sich.

Ding Dong: „Gumpendorferstraße, U-Bahn, umsteigen zu den Linien sechs und U vier."
Heiß ist die Stadt. Der Asphalt glüht. Schweißdampf im Wagon. Kinzi an der Hand der Mutter. Die Straßenbahn bremst unversehens. Schweißgebadete blicken aus den Fenstern. Polizei, Blaulicht. Jemand ist auf die Schiene gefallen. Einer von jenen, von den Ausgemergelten, Vergifteten.

„Scheiß Giftler", schreit jemand.
„Mama was sind Giftler?"
„Süchtige, gib Ruh!"
Kara kann nicht mehr. Sie ist so müde.

„Tralalala. Kaufen Sie das neue Foxi, jetzt noch weicher. Lungenbraten vom Rind um nur vier neunzig das Stück, Antibiotika sind schon drin, keine Angst mehr vor Streptokokken. Einfach nur Fleisch essen. Tralalala."

„Trätarätätä. Wollen Sie einen Internetzanschluss mit drei Fernsehkanälen gratis? Trätarätätä."

Der junge Mann möge doch bitte, bitte, sein Kopfhörerradio leise stellen.
„Kaufen Sie mir doch bessere Kopfhörer mit Schaumpolsterung, wenn Sie der Lärm stört!"
Angewidert dreht der grünhaarige Jüngling den Kopf zum Fenster und zieht den Rotz auf.
Schnarrendes Gezeter von der älteren Dame auf dem Sitz daneben. Manieren seien das, widerlich!

Ding Dong: „Maragaretengürtel U-Bahn, umsteigen zu den Linien U vier und sechs."
Raus hier. Kinzis Hand ist nassgeschwitzt.
„Ich will nicht mehr leben!", piepst die Kleine.
„Um Gottes Willen! Wieso denn?"
Auch das noch. Kara schafft es bald nicht mehr. Mit dem Immerverfügbarsein fürs Kaufhaus, mit Kinzi, mit den unbezahlten Rechnungen.

Kara nimmt sich zusammen. Sie setzt sich mit Kinzi auf eine Holzbank, streicht ihr durchs Haar. Gehänselt wurde sie. Wie so oft. Sie habe keinen Papa, aber so viele haben keinen Papa.

„Wo ist MEIN Papa?"
„Weg."
Fort war er, Kinzis Papa, ganz plötzlich weg zum Sich-Selbst-Verwirklichen, ohne Alimente zu zahlen. Das Gericht mahlt langsam, so wartet Kara vergebens auf das Geld. Deshalb lässt sie sich schikanieren. Muss dies mit sich geschehen lassen. Kinzi sollte die Schule wechseln, sind aber alle gleich diese Schulen. Zuchtanstalten mit Harlekingesicht.

Sie stehen auf. Kara ist erschöpft. Jemand rempelt. Es ist Scholz, der andere Nachbar. Der ist arbeitssüchtig. Karriere machen will er, der Scholz. So scholzt er durchs Leben, zisch zisch. Keine Ruhe. Als Kind war Scholz noch Wiener. Heute ist Scholz aus Überall, spricht fast unentwegt Englisch mit schwerem Akzent. Erfolgreich fühlt er sich, der Scholz. Trotzdem wohnt er im Gemeindebau. Extremsport am Wochenende. Vitaminpillen. Den Handrechner immer mit sich tragend, mal nach hier, mal nach dort scholzend, in rasender Geschwindigkeit. Amerikanischer Lebensstil. Schneller, immer schneller, kalt durchs leben sausen, hui! Plastikessen, angereichert. So scholzt es sich in der Neuen Zeit, selbst im Gemeindebau und mit überzogenem Konto. Früher hätte man hier so jemanden ausgelacht. Doch heute bewundert man Scholz, denn er ist so schneidig.

Aus Frunz’ Wohnung riecht es komisch. Kara bemerkt es nie, sie ist immer zu müde. Scholz kümmert es nicht, für derlei hat er keine Zeit. So frunzelt es halt am Gang.

Kinzi quengelt. Kara kocht. Der Fernsehapparat wird eingeschalten. Nachrichten vorgetragen wie lauwarmer Kamillentee. Von einem gesichtslosen Jüngling. Seelenlos und leer die Filme, die Sprecher, die Schauspieler, die Zuseher. Der aseptische Giftzwerg spricht zum Volk. Keiner hört zu. Alles ist einem egal geworden. Man kann ohnehin nichts machen. Ein Philosoph gibt etwas zum Besten, das passt so manch Angesehenem nicht. Künstler beschimpft daraufhin den Denker, findet Österreich beschissen und schwimmt dabei in Geld. An Kara denkt niemand, nicht der aseptische Zwerg, nicht Künstler, nicht der Philosoph, schon gar nicht Scholz. Frunz auch nicht, er schläft ja.

Eine pummelige Präsentatorin befrägt die Gäste über die Liebe, jeder schwafelt. Niemand kann etwas dazu sagen. Das Telefon läutet. Kara solle morgen arbeiten. Wer passt auf Kinzi auf? Die Großmutter ist aufs Land gefahren. Kara erwidert, sie könne nicht wegen Kinzi. Kündigung fernmündlich. Kara vergräbt das Gesicht in den Händen. Was soll bloß aus ihnen werden, aus ihr und Kinzi? Sorgen werden Kara eine schlaflose Nacht bereiten. Sie zieht die Vorhänge von den offenen Fenstern weg. Erdrückende Nachtschwüle. Sauber und glatt sind die zwei Betten. Seufzend legt sich Kara nieder. Im Hof das Surren der Ventilatoren. Aus den Fenstern flimmern bläuliche Strahlen von Fernsehgeräten. Ein Mobiltelefon piepst durch die heiße Stille der Nacht. Kara wird keinen Schlaf finden. Ängste werden sie quälen, wild durch ihren Kopf rasen, unentwegt, unbarmherzig. Das Herbeisehnen nächtlicher Ruhe, das Wälzen im Bett. Folter bis in den frühen Morgen.

Frunz schläft und schnarcht dabei. Im Hof erhallt es, Frunz’ Geschnarche. Scholz ist noch auf, tippt emsig verbissen in den Rechner. Der Mond hängt in trägem Dunkelgelb am Himmel.

Verscholzt ist das Land, verfrunzt auch. Gute Nacht Wien!


© C. Timidus, Juni, August 2003

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