Timidus
Mittwoch, 3. November 2004
Avenida Paulista
„Ganz ruhig“, flüstert er Alexandra ins Ohr. „Es geschieht dir nichts!“ Das kalte Rohr der Knarre an ihrer Schläfe. Mit hurtigen Bewegungen tastet er ihre Hosentaschen ab.
„Wo hast du die Knete?“
„Vorne links“. Alexandra stottert im fremden Akzent.
Menschen hasten vorbei. Fahrzeuge quälen sich in zähem Fluss über die vierspurige Piste. Niemand greift ein, die Eilenden machen einen Bogen um die beiden.
Sie zittert, Schweiß rinnt über die Stirne, Angsttränen brennen in den Augen.

Er zieht die kleine Lederbörse aus ihrer Hosentasche, nimmt die Armbanduhr von ihrem Handgelenk, schlägt ihr mit dem Pistolengriff auf den Kopf. Alexandra fällt zu Boden. Hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Er ist davongelaufen, entschwunden durch die hektische Menge.

Sie setzt sich auf, stützt sich mit der Hand auf das Quadersteinpflaster. Kurze, heftige Atemzüge, Herzklopfen. Es kitzelt auf ihrem Nacken. Sie fährt mit der Hand zu der Stelle. Blut klebt an ihren Fingern.

Benommen steht sie auf. Menschen rempeln sie an. Hier pflegt man schnell zu gehen, ein Ziel vor Augen habend. Alexandra kneift die Augen zusammen, die stechenden Sonnenstrahlen sind ihr unerträglich. Sie wankt zu einem Baum, lehnt sich an den Stamm. Das Blut rinnt langsam über ihren Rücken, wird vom Leibchen aufgesogen.

Allmählich fasst sie sich wieder, hält jemanden auf, will wissen, wo die nächste Polizeistation sei. Hektisch deutet der Mann im Anzug „Nach zwei Querstraßen gerade aus an der Ecke!“

Ein langer Weg durch die Häuserschlucht. Die Glasfassaden der Wolkenkratzer reflektieren die Sonne, blenden. Auspuffe rauchen. Der Lärm pocht in ihren Ohren, lässt den Schmerz in ihrem Kopf anschwellen. Sie läuft am Fernsehturm vorbei. Ein paar Meter noch. Endlich erreicht sie das Kommissariat.

„Ich bin überfallen worden!“, radebrecht sie. Sie solle warten, wird ihr gesagt. Ein Ventilator surrt an der Decke, bläst stickige verbrauchte Luft durch den Raum. Ein untersetzter Beamter mit Schnauzbart hört sich ihre Geschichte an, versucht aus ihrem aufgeregten Gestammel den Hergang zu Protokoll zu bringen. Alexandra kann kein Dokument vorweisen. Die Kopie des Passes, erzählt sie, sei bei dem Vorfall abhanden gekommen.

Wie er denn ausgesehen habe der Täter, wird sie gefragt. Alexandra kann sich an fast gar nichts erinnern. Dunkelhaarig, untersetzt, in Jeans und Sandalen. Der Beamte notiert.

Woher sie komme will er wissen. Ob sie jemanden habe in São Paulo. Eine Brieffreundin, bei der sie jetzt zu Gast sei.
„Aus Europa!“ ruft der Beamte entzückt. Über Wien habe er schon einiges gehört, Walzer, Sigmund Freud und so fort. Alexandra lächelt gequält und nickt. São Paulo sei sehr gefährlich, belehrt er Alexandra wohl wollend, sie solle in Zukunft nicht mehr so alleine herumlaufen. Der Täter würde nie gefunden werden, tausende Male pro Tag passiere derlei in dieser Stadt, ganz zu schweigen von den Morden.

Die Nummer ihrer Gastgeberin hat sie auswendig gelernt, zur Sicherheit. Auf der Polizei sei sie, erzählt sie aufgeregt, als der Beamte ihr den Hörer in die Hand drückt. Ein Überfall.
„Ich hol dich dort ab.“
Ihren Pass solle sie mitnehmen, er liege auf der Kommode im Gästezimmer. Eine Beamtin streift sich Gummihandschuhe über die Hände, fährt Alexandra durchs Haar, tupft mit Desinfektionsmittel herum.
„Nichts schlimmes!“ sagt sie gleichgültig.
„Eine kleine Platzwunde!“ Die Beamtin klopft ihr auf die Schulter. So schöne blonde Haare, meint sie, sehe man in Brasilien nur im Süden.

Joana, Alexandras Gastgeberin, kommt im Taxi. Es habe gedauert, der Verkehr sei unerträglich wie üblich.
„Gott sei Dank ist nicht mehr geschehen!“
Joana fischt Alexandras Pass aus ihrer Brusttasche, die sie unter der Bluse verborgen trägt. Der Beamte nimmt die Daten auf. Alexandra erhält eine Kopie des Protokolls.

„Sie waren ganz nett zu mir!“, meint Alexandra, als sie neben ihrer Freundin im Taxi sitzt.
„Zu Touristen aus Europa sind sie fast immer nett. Unsereins wird behandelt wie Dreck!“, seufzt Joana. Alexandra schneuzt sich, der Rotz ist grau von der verschmutzten Luft.

„Aber mitten auf der Avenida Paulista...“, Alexandra hat sich ein wenig beruhigt.
„Komm, heute am Abend machen wir etwas ganz tolles!“

Am Abend fahren sie los, Joana, ihr Verlobter und Alexandra, durchqueren die lärmige Stadt, fahren die Avenida Paulista entlang, Lichterglitzer. Eine schwarze Limousine blockiert den Verkehr, drei schwarz eingehüllte Frauen aus dem Orient entsteigen dem Luxusgefährt. Joana hupt.

Sie fahren die ganze Schlagader der Stadt entlang bis zum Edifício Itália. Ein bewachter Parkplatz, Schmiergeld für den Wächter. Hinauf geht es in den fünfzigsten Stock. Das Restaurant ist vom Feinsten. Ein Platz am Fenster. Unter ihnen ein endloses Lichtermeer. Alexandra will weg von hier, aber jetzt noch nicht.



© C. Timidus, Wien im August 2004

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