Timidus
Mittwoch, 12. Mai 2004
Liebe im einundzwanzigsten Jahrhundert
John lag in tiefem Schlaf. Karla beobachtete ihn, wie er so dalag, wie sich sein Brustkorb in langsamen Zügen hob und senkte. Sanft strich sie ihm durch sein rotblondes Haar. Das Fenster war zur Gänze geöffnet. Die Hitze der Stadt war dumpf und erdrückend. Morgen würden sie ihre letzten Stunden zusammen verbringen. John musste weg, beruflich, für sehr lange Zeit, würde auch nie mehr zurückkommen. Wegen Karla wollte und konnte er seine Laufbahn nicht aufgeben, obwohl sie sich das sehnlichst gewünscht hatte. Wütend war sie nicht, sie liebte ihn ja. Traurig war sie, niedergeschlagen, weil es nicht und nicht klappen wollte mit dem Leben, mit der immer währenden Liebe. Stets ging irgendetwas schief. Bald würde die Sonne aufgehen, der Wecker läuten, den letzten Kaffee würden sie zusammen trinken. Karla stand auf, ging ans Fenster, starrte in den Innenhof, auf die Häuser gegenüber. Die Fenster standen sperrangelweit offen, um die etwas erträglichere Nachtluft in die stickigen Wohnungen zu lassen. Efeu rankte sich an den Mauern des Hauses gegenüber hoch, fast bis zum Dach hinauf. Schnarchen war zu hören. In einer Wohnung brannte schon Licht. Ein Mann und eine Frau bewegten sich schlaftrunken in Pyjama und Nachthemd zur Zimmertüre und verschwanden. Verkehrslärm drang schon ganz sachte in den Hinterhof der kleinen Seitengasse. Karla setzte sich auf die Bettkante, nahm das Päckchen Zigaretten aus ihrer Nachttischlade, klopfte mit dem Zeigefinger gegen den Boden der zerknitterten Packung und zog eine leicht verbogene Zigarette heraus. Drei Mal rollte sie mit ihrem Daumen das gezahnte Rädchen des kleinen Plastikfeuerzeuges, bis es endliche eine Flamme schlug. Die qualmende Zigarette fest zwischen Zeige- und Mittelfinger gepresst, ging sie wieder zum Fenster, lehnte sich hinaus, sog den Rauch ein und staubte die Asche in den Hof.

Karla hatte nicht geschlafen, zog es vor, wach zu bleiben, um John beim Schlafen zuzusehen. Nur ein halbes Jahr hatte ihr Zusammensein gedauert. Oft hatten sie sich nicht gesehen, da John ja auf Geheiß der Firma nur zum Arbeiten nach Wien gekommen war. Deshalb verbrachte er viele Abende und Wochenenden im Büro. Doch die raren Momente, die sie miteinander in Karlas kleiner Altbauwohnung teilten, waren für sie die glücklichsten, die sie bisher erlebt hatte. Die Sonne war am Aufgehen. Der Hinterhof, die efeuumwucherten Häuserwände in tiefrotes Licht gehüllt. Vögel sangen.

Karla stellte den Wasserkessel zu, drückte den Papierfilter in den weißen Porzellantrichter, schüttete mit einem Schäufelchen Kaffee in den Filter, goss mit kochendem Wasser auf. Es sollte ein richtiges Wiener Frühstück werden. Seufzend legte sie die am Vortag besorgten Semmeln und Butterkipferln in das Rohr. Von der durchwachten Nacht war ein dumpfes Brummen in ihrem Schädel. Aus dem Schlafzimmer hörte sie den Wecker piepsen. Hurtig zog sie sich den Bademantel über das weiße, viel zu große T-Shirt, das ihr als Nachthemd diente. Fluchend nahm sie die leicht angebrannten Semmeln und Kipferl aus dem Rohr, kratzte die dunkelbraune Kruste mit einem Messer weg. John war in der Küche erschienen, in Boxershorts und gelbem Leibchen, auf dem „Almhudler" stand. „Oh, Frühstück", stellte er, erfreut die Augenbrauen hochziehend, fest. Karla schenkte Kaffee in die klobigen Tassen. Sie saßen einander gegenüber und schwiegen. John blickte ihr nicht in die Augen, rührte nur mit dem Löffel laut gegen die Tasse klimpernd in seinem Kaffee, tauchte das Ende des Kipferls ins Marmeladeglas und biss ins sacht knuspernde Gebäck. Die Morgensonne stach durch das Fenster. „Heiß wird es heute", flüsterte Karla. Sie versuchte, Johns Augen zu erhaschen. Er senkte seinen Kopf zum Teller, auf dem das angebissene Kipferl lag.

„Werd mir ein Taxi nehmen, brauchst nicht mitzufahren." John wandte den Blick nicht vom Teller ab. Karla war enttäuscht, versuchte ihn zu überreden, sie mitfahren zu lassen. John lehnte ab, da er, wie er meinte, Abschiedsszenen hasse. Seufzend erhob sich Karla von ihrem wackeligen Küchenhocker. Den Platz auf der kleinen, gepolsterten Bank hatte sie John überlassen. Sich die Augen reibend ging sie ins Badezimmer. Missmutig klopfte sie wie jeden Morgen gegen die zwei lockeren azurblauen Fliesen an der Wand, die leicht aus dem glatten, weiß-blauen Gefüge hervorstanden. Karla konnte das morgendliche Bad nicht so genießen, wie sie es sonst tat. John klopfte gegen die Badezimmertüre, er habe es schon ein wenig eilig, brummte er. Als Karla heraustrat, sah sie seinen schwarzen Koffer vor der Schlafzimmertüre stehen. Bleierne Schwermut überkam sie. Sie würde ihn wahrscheinlich nie wieder sehen, auch kaum von ihm hören. Zu beschäftigt würde er dort in Delhi sein, wohin man ihn für das nächste halbe Jahr gesandt hatte. Ihr Studium der Klassischen Philologie würde sie auch sehr in Anspruch nehmen, und ihre Teilzeitstelle im Reisebüro musste mit ihren Vorlesungen in Einklang gebracht werden. Ferner hatte sie ihre Diplomarbeit in Angriff zu nehmen. Beschäftigt würde sie sein, ohne Zweifel. Hinzu kam noch die Distanz. Karla wusste, ein, zwei Briefe, Emails und möglicherweise eine Karte zu Weihnachten würden vielleicht noch kommen, dann nichts mehr. Unter heftigem Trennungsschmerz litt sie nicht. Die Kehle schnürte sich ihr nicht zu. Auch keine Wut, kein Drang zum Weinen. Nur diese bleierne Schwermut, die sie zu erdrücken drohte. Mit nassen Haaren und einem Handtuch um seine Hüften geknotet, kam er aus dem Badezimmer, fragte nach seinen Hosen, seinem Hemd. Karla legte die Kleidungsstücke säuberlich zusammengelegt in seine Hände. „Da, ich hab’s dir gestern noch gewaschen", flüsterte sie auf Deutsch. Er verstand sie nicht, wollte wissen, warum sie immer irgendetwas in ihrer Sprache murmeln müsse, wo sie doch wisse, dass er kaum etwas verstünde. „Ihr seid schon irgendwie komisch", sagte er auf Englisch, schüttelte den Kopf und ging ins Wohnzimmer, um sich anzuziehen. „In Indien wird’s noch viel komischer", feixte sie ihm nach. Karla bestellte das Taxi. Er stand bei der Türe, den Griff des Koffers mit seinen Fingern umfassend. „Soll ich nicht mitfahren? Lass mich doch mitfahren!" „Ich will das nicht", wehrte er ab.

Zum Abschied umarmte er sie nochmals, strich ihr über die dunkelbraunen Locken, strich sanft über ihr schmales Gesicht, fuhr mit dem Zeigefinger sachte über ihre Stupsnase, ihren fülligen Mund. „Leb wohl", flüsterte er und öffnete die Türe. Sie blickte ihm noch nach, wie er zum Aufzug ging. Als er hinter der Gittertüre des Fahrkorbs verschwand, drehte sich Karla schließlich um. „Das war’s", dachte sie, und als sie die Marmeladeflecken, die er auf der Tischplatte hinterlassen hatte, wegwischte, musste sie Abschied von einem halben Jahr Glück nehmen. Nun war sie alleine mit ihrer Schwermut, ihrer Sehnsucht nach dem soeben vergangenen halben Jahr, nach all den Momenten, in welchen für sie das Leben leicht, heiter, einfach wunderbar gewesen war. Sie, Karla Gruber, war ein halbes Jahr lang verliebt und glücklich gewesen, glücklicher als niemals zuvor in ihrem Leben.

Da sich Karla im Reisebüro frei genommen hatte, in der Annahme, sie könne John zum Flughafen begleiten, beschloss sie, den Tag draußen zu verbringen, zu ein paar Plätzen zu fahren, wo sie mit John öfters gewesen war.

Stickig und heiß war die Luft im Bus, obwohl man alle Fenster geöffnet hatte. Die Sonne brannte in voller Sommerglut. Die Allee entlang des Ringes prangte in vollem, sattem Grün, Menschen saßen im Gras des Volksgartens. Karla schlenderte vorbei an den grün gestrichenen Holzsesseln vor den großen Rosenstöcken, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. In der Meierei hatten sie manchmal gesessen, als der Frühling hereinbrach, sie und John. Damals wollte sie das Ende nicht wahrhaben, es lag weit entfernt. Sie hegte Hoffnungen, dass er doch bleiben würde, obwohl er ihr von Anfang an eröffnet hatte, dass er nach einem halben Jahr wieder weg müsse aus Wien. Unter den Bäumen der Ringstraße spazierten sie im Frühling. John blickte meistens auf die wuchtigen Gesimse der Palais, auf die von finster blickenden, feisten Atlanten aus Stein getragenen Balkone und Erker, auf die hohen, breiten Fenster mit ihren vielen Verstrebungen, die kräftigen Koren und Amazonen, die gebeugten Nackens Torsimse und wuchtig verzierte Söller auf ihren Schultern trugen. Beim Michaelertor waren sie manchmal gestanden, neben einem der Wandbrunnen, wo kämpfende Riesen mit schmerzverzerrten Gesichtern Wasser speien. John sah dann immer zu der patinagrünen Kuppel des Michaelertores hinauf. Doch er konnte sich nicht ganz an das pompöse, ernste Antlitz einer einstmals mächtigen Stadt gewöhnen.

Die wenige Zeit, die ihm nach seiner Arbeit verblieben war, verbrachte er mit Karla. Er, der aus Boston kam, niemanden in der ihm fremden Stadt kannte, wollte nicht einsam sein. Sie liebte ihn über alles. Nun ging Karla durch die Gassen, in welchen sie mit ihm Hand in Hand geschlendert war. Schritt durch Durchgänge mit Antiquitätenläden, die so manch Wunderliches in den Auslagen ausstellen, an Allerweltsgeschäften vorbei, die sich wie Fremdkörper in die stuckverbrämten Gemäuer eingenistet hatten. John, dachte Karla, sei ein wenig froh gewesen, dass er an einen anderen Ort versetzt wurde, der ihm vermutlich noch fremder sein würde als Wien. Karla lief den ganzen Tag durch die Stadt, bis die Sonne langsam am Untergehen war. Ging bis zu ihrer Wohnung, die Abendluft senkte sich schwer über die Dächer, schmeckte bittersüß nach Erinnerungen.

Eine Woche verging, Karla ging ihrem Tagewerk nach, lernte, arbeitete und schrieb an ihrer Diplomarbeit. Sie dachte dauernd an John. Wehmütig malte sie sich aus, wie es gewesen sein könnte, wäre er geblieben. Er schrieb nicht, auch nach drei Wochen nicht. Karla fühlte sich nicht wohl, ihr war oft übel. Manchmal bekam sie leichte Schwindelanfälle. Schließlich ließ sie sich untersuchen und erfuhr, dass sie ein Kind erwartete. Karla war wieder glücklich, schrieb John die Nachricht jeden Tag an seine permanente Emailadresse, die er von überall abrufen konnte. Karla wartete sehnlichst auf Antwort. John meldete sich nicht. Sie wartete geduldig, Monate lang. Als sie eines Abends alleine zu Hause saß, nachdem sie erwartungsvoll den Postkasten geöffnet hatte, der nur bunte Prospekte enthielt, sie wieder im Minutentakt ihre elektronische Post abgerufen hatte, ohne Nachricht von John zu erhalten, gab sie die Hoffnung auf. „Wir werden das schon schaffen, wir zwei...", sagte sie zu sich selbst, strich sacht mit der Hand über den Bauch und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen.


© C. Timidus, Februar 2003

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Letzte Aktualisierung: 2006.03.04, 17:36
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