Timidus
Dienstag, 16. März 2004
Bahnhof Porta Nuova
Nervös tappte Giulio von einem Fuß auf den anderen. Den Blumenstrauß umklammerte er fest mit seiner Hand. Menschen tummelten sich auf den Bahnsteigen des Turiner Hauptbahnhofes, Carabinieri streiften mit ernster Miene durch die Menge. Ob ihr seine neue Frisur gefallen würde? Sein dunkelbraunes Haar hatte er ganz kurz schneiden lassen. Statt der Brillen trug er die Kontaktlinsen, die er ausgesprochen selten verwendete, da sie ihm unangenehm waren. Zu diesem besonderen Anlass nahm er das Unbequeme auf sich, sehe er doch unbebrillt besser aus, fand er. Einen neuen Anzug hatte er eigens für diesen Tag erworben, selbst die Rasur ließ er vom Friseur machen.

Ob sie „ja" sagen würde? Wieder und wieder hatte er seinen Heiratsantrag in ihrer Sprache eingeübt. Er würde sie gleich am Bahnsteig fragen, nachdem sie ausgestiegen war. Was, wenn sie „nein" sagte. Giulio verwarf den Gedanken augenblicklich.

„Ahm, sagen Sie mal, der Eilzug aus Mailand, ist der ausnahmsweise mal pünktlich?", fragte er den Eisenbahnbeamten, der gerade an ihm vorbeiging.
„Ist schon da. Allerdings auf Gleis fünf.", antwortete der Beamte.

„Verdammt!", fluchte Giulio und eilte zum anderen Bahnsteig. Dass nicht einmal die Angaben auf der Anzeigetafel stimmten. Er ärgerte sich. Giulio hatte den Moment von Monikas Ankunft tags zuvor genau geplant, es sollte ein ganz besonderer Augenblick werden, der schönste in beider Leben.

Eigentlich hätte sie ihn am Mobiltelefon anrufen können, als sie den Anschlusszug in Mailand bestieg. Giulio war plötzlich unsicher. Er versuchte sie in der Menge ausfindig zu machen, lief den Bahnsteig auf und ab, betrachtete die Aussteigenden, blickte angespannt zu den Fenstern der Wagone. Er konnte Monika nicht ausfindig machen. Sie sei einfach nicht gekommen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ob ihr womöglich etwas zugestoßen sei? Empfand sie überhaupt so viel für ihn? Liebte sie ihn so wie er sie? Wahrscheinlich, mutmaßte er, habe sie einfach den Zug versäumt. Gewiss würde sie im nächsten sitzen, versuchte er sich zu beruhigen.

In einer Stunde würde er nochmals zum Bahnsteig gehen und inzwischen eine kleine Stärkung einnehmen, dachte er. Giulio ging durch die Bahnhofshalle. Neben dem Informationsschalter stand Monika an die Wand gelehnt und blickte missmutig auf die Uhr. Sein Herz begann heftig zu pochen, als er sie erblickte. Für einen kurzen Augenblick hielt er inne und betrachtete sie. Monika stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ist man denn hier niemals pünktlich!", dachte sie ein wenig ärgerlich.

Giulio eilte auf sie zu. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln der Zuneigung, als sie ihn erblickte.

Sie war doch gekommen. Sein Herz raste in freudiger Aufregung. Er dürfe es einfach nicht vermasseln. Einen tiefen Atemzug machte er, bevor er zu ihr ging.
„Wo warst du denn?", fragte er und umarmte sie. Den Blumenstrauß hatte er noch in der Hand.
„Ich dachte, hier findest du mich leichter. Da war so ein Gewühl am Bahnsteig."
„Sind für dich!", flüsterte er schüchtern.
„Und willehst duu misch..." der Antrag auf Deutsch war ihm trotz des wiederholten Übens entfallen. Giulio begann zu stottern und errötete. Betreten blickte er zu Boden. Monika musste lachen. Da stand Giulio vor ihr, einen etwas mitgenommenen Blumenstrauß in zitternden Händen haltend und wusste weder ein noch aus.

„Ich möchte aber lieber in Wien heiraten, wenn’s dir nichts ausmacht." Monika umarmte ihn. Er war ihr zuvorgekommen. Eigentlich wollte sie diejenige sein, die den Antrag machte. Ferner wollte sie noch ein wenig warten, aber da es nun einmal ausgesprochen war, dachte sie, sei auch jetzt in Ordnung. Es war ihr ernst mit Giulio.

Giulio nahm ihre Reisetasche und gab ihr einen Kuss. Monika betrachtete liebevoll den Blumenstrauß, als sie den lauten Knall hörte und die Druckwelle spürte. Sie fühlte Giulios Hand, als es ihr schwarz vor den Augen wurde.

© C. Timidus, Wien im März 2004

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Schrecklich
schön. Keine weiteren Worte.

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Letzte Aktualisierung: 2006.03.04, 17:36
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