Timidus
Mittwoch, 7. Jänner 2004
Frunz schläft
Frunz schläft, verfrunzt sein Leben vor dem Fernsehgerät. Er isst und schläft. Fett ist er, der Frunz, vom vielen Liegen, vom vielen Essen und stinkt nach Schweiß. Bunte Bilder an sich vorbeizischen lassend, döst er vor sich hin, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Ändern will er sich nicht, hat er es doch schon längst aufgegeben, an der Welt teilzuhaben. Sie hat ihn ausgespien vor einigen Jahren, war der Ansicht, jemanden wie Frunz brauche sie nicht. Seitdem verfrunzt er.

Kinzi ist das Kind von Frunz’ Nachbarin Kara. Die Kleine geht zur Schule, die sie nicht mag. Ihre Mutter hat wenig Geld, lässt sich tagein, tagaus quälen, von ekelhaften Vorgesetzten und widerlichen Kollegen. Am Nachmittag holt sie Kinzi von der Schule ab. Montags bis Samstags. Kara ist abgehetzt, nicht nur von Montag bis Samstag, auch an manchem Sonntag. Am Samstag wird sie zuweilen angerufen und erfährt, dass sie sonntags zur Arbeit muss. In einem großen Kaufhaus dreht sie gegen ihren Willen Menschen Fetzen an, die lustlos von silber glitzernden Kleiderhaken herunterhängen. Kinzi kommt dann zur Großmutter.

Diesmal möchte die Lehrerin mit Kara sprechen. Kinzi sei so unaufmerksam, interessiere sich nicht für den Unterricht, nehme nicht daran teil. Kara zuckt mit den Achseln. Einkaufen gehen muss sie noch, kochen, Kinzi betreuen. Vielleicht liegt’s am Unterricht möchte sie sagen, verkneift es sich.

Ding Dong: „Gumpendorferstraße, U-Bahn, umsteigen zu den Linien sechs und U vier."
Heiß ist die Stadt. Der Asphalt glüht. Schweißdampf im Wagon. Kinzi an der Hand der Mutter. Die Straßenbahn bremst unversehens. Schweißgebadete blicken aus den Fenstern. Polizei, Blaulicht. Jemand ist auf die Schiene gefallen. Einer von jenen, von den Ausgemergelten, Vergifteten.

„Scheiß Giftler", schreit jemand.
„Mama was sind Giftler?"
„Süchtige, gib Ruh!"
Kara kann nicht mehr. Sie ist so müde.

„Tralalala. Kaufen Sie das neue Foxi, jetzt noch weicher. Lungenbraten vom Rind um nur vier neunzig das Stück, Antibiotika sind schon drin, keine Angst mehr vor Streptokokken. Einfach nur Fleisch essen. Tralalala."

„Trätarätätä. Wollen Sie einen Internetzanschluss mit drei Fernsehkanälen gratis? Trätarätätä."

Der junge Mann möge doch bitte, bitte, sein Kopfhörerradio leise stellen.
„Kaufen Sie mir doch bessere Kopfhörer mit Schaumpolsterung, wenn Sie der Lärm stört!"
Angewidert dreht der grünhaarige Jüngling den Kopf zum Fenster und zieht den Rotz auf.
Schnarrendes Gezeter von der älteren Dame auf dem Sitz daneben. Manieren seien das, widerlich!

Ding Dong: „Maragaretengürtel U-Bahn, umsteigen zu den Linien U vier und sechs."
Raus hier. Kinzis Hand ist nassgeschwitzt.
„Ich will nicht mehr leben!", piepst die Kleine.
„Um Gottes Willen! Wieso denn?"
Auch das noch. Kara schafft es bald nicht mehr. Mit dem Immerverfügbarsein fürs Kaufhaus, mit Kinzi, mit den unbezahlten Rechnungen.

Kara nimmt sich zusammen. Sie setzt sich mit Kinzi auf eine Holzbank, streicht ihr durchs Haar. Gehänselt wurde sie. Wie so oft. Sie habe keinen Papa, aber so viele haben keinen Papa.

„Wo ist MEIN Papa?"
„Weg."
Fort war er, Kinzis Papa, ganz plötzlich weg zum Sich-Selbst-Verwirklichen, ohne Alimente zu zahlen. Das Gericht mahlt langsam, so wartet Kara vergebens auf das Geld. Deshalb lässt sie sich schikanieren. Muss dies mit sich geschehen lassen. Kinzi sollte die Schule wechseln, sind aber alle gleich diese Schulen. Zuchtanstalten mit Harlekingesicht.

Sie stehen auf. Kara ist erschöpft. Jemand rempelt. Es ist Scholz, der andere Nachbar. Der ist arbeitssüchtig. Karriere machen will er, der Scholz. So scholzt er durchs Leben, zisch zisch. Keine Ruhe. Als Kind war Scholz noch Wiener. Heute ist Scholz aus Überall, spricht fast unentwegt Englisch mit schwerem Akzent. Erfolgreich fühlt er sich, der Scholz. Trotzdem wohnt er im Gemeindebau. Extremsport am Wochenende. Vitaminpillen. Den Handrechner immer mit sich tragend, mal nach hier, mal nach dort scholzend, in rasender Geschwindigkeit. Amerikanischer Lebensstil. Schneller, immer schneller, kalt durchs leben sausen, hui! Plastikessen, angereichert. So scholzt es sich in der Neuen Zeit, selbst im Gemeindebau und mit überzogenem Konto. Früher hätte man hier so jemanden ausgelacht. Doch heute bewundert man Scholz, denn er ist so schneidig.

Aus Frunz’ Wohnung riecht es komisch. Kara bemerkt es nie, sie ist immer zu müde. Scholz kümmert es nicht, für derlei hat er keine Zeit. So frunzelt es halt am Gang.

Kinzi quengelt. Kara kocht. Der Fernsehapparat wird eingeschalten. Nachrichten vorgetragen wie lauwarmer Kamillentee. Von einem gesichtslosen Jüngling. Seelenlos und leer die Filme, die Sprecher, die Schauspieler, die Zuseher. Der aseptische Giftzwerg spricht zum Volk. Keiner hört zu. Alles ist einem egal geworden. Man kann ohnehin nichts machen. Ein Philosoph gibt etwas zum Besten, das passt so manch Angesehenem nicht. Künstler beschimpft daraufhin den Denker, findet Österreich beschissen und schwimmt dabei in Geld. An Kara denkt niemand, nicht der aseptische Zwerg, nicht Künstler, nicht der Philosoph, schon gar nicht Scholz. Frunz auch nicht, er schläft ja.

Eine pummelige Präsentatorin befrägt die Gäste über die Liebe, jeder schwafelt. Niemand kann etwas dazu sagen. Das Telefon läutet. Kara solle morgen arbeiten. Wer passt auf Kinzi auf? Die Großmutter ist aufs Land gefahren. Kara erwidert, sie könne nicht wegen Kinzi. Kündigung fernmündlich. Kara vergräbt das Gesicht in den Händen. Was soll bloß aus ihnen werden, aus ihr und Kinzi? Sorgen werden Kara eine schlaflose Nacht bereiten. Sie zieht die Vorhänge von den offenen Fenstern weg. Erdrückende Nachtschwüle. Sauber und glatt sind die zwei Betten. Seufzend legt sich Kara nieder. Im Hof das Surren der Ventilatoren. Aus den Fenstern flimmern bläuliche Strahlen von Fernsehgeräten. Ein Mobiltelefon piepst durch die heiße Stille der Nacht. Kara wird keinen Schlaf finden. Ängste werden sie quälen, wild durch ihren Kopf rasen, unentwegt, unbarmherzig. Das Herbeisehnen nächtlicher Ruhe, das Wälzen im Bett. Folter bis in den frühen Morgen.

Frunz schläft und schnarcht dabei. Im Hof erhallt es, Frunz’ Geschnarche. Scholz ist noch auf, tippt emsig verbissen in den Rechner. Der Mond hängt in trägem Dunkelgelb am Himmel.

Verscholzt ist das Land, verfrunzt auch. Gute Nacht Wien!


© C. Timidus, Juni, August 2003

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