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Mittwoch, 2. Juni 2004
Der Eunuch
c. timidus, 16:21h
„Hört alle her, der Jahrmarkt kommt", rief der Junge ganz aufgeregt und lief keuchend auf seinen bloßen Füßen durch die Gassen des Dorfes. Ein paar Menschen steckten neugierig ihre Köpfe aus den Fenstern, Kinder liefen aus den Toren der niederen, ärmlichen Häuser und rannten dem Jungen hinterher. „Der Jahrmarkt kommt!", kreischten sie voller Freude. Ein Mann blieb mit seiner Heugabel in der Hand stehen. „Hast du ihn denn gesehen, den Jahrmarkt meine ich", fragte er den Jungen. „Er war auf der Landstraße, dort hab ich ihn gesehen", antwortete der Junge keuchend.
Von der Ferne hörte man schon den Lärm des herannahenden Jahrmarktes. Die Wirtsleute bereiteten die Zimmer vor, denn ein paar von den Schaustellern und Händlern würden sicher im Wirtshaus übernachten wollen, dachten sie. Die Menschen traten aus ihren Häusern hervor und säumten die Hauptstraße des Dorfes, um den Jahrmarkt einziehen zu sehen. Der Jahrmarkt zog ins Dorf ein. Eine Blaskapelle spielte, Gaukler führten ihre Jonglierkünste vor, bunt gekleidete Zwerge tanzten um die beladenen Wagen, ein dicker, ganz in schwarz gekleideter Mann brüllte durch ein Sprechrohr: „Hört zu ihr Leute, heute zieht der Jahrmarkt ein, kommt alle, seht euch das an, das dürft ihr nicht versäumen!" Die Händler zogen mit ihren von Waren überbeladenen Karren hinter den Schaustellern her. Der Jahrmarkt schlug seine Zelte ein wenig außerhalb des Dorfes auf. Die Menschen liefen herbei und bestaunten die Feuerschlucker, die Gaukler, die Spaßmacher, die Zwerge, die in ihren bunten Kostümen akrobatische Kunststücke darboten. Einige ließen sich von den Händlern so manch Unnützes andrehen, andere lauschten den Märschen der Blaskapelle. Hinter einem der Marktstände befand sich ein kleines graues Zelt, vor dem der dicke Mann in Schwarz mit seinem Sprechrohr stand. „Kommt her!", rief er, „das gibt es nur bei mir zu sehen, kommt alle her!" Eine kleine Ansammlung von Schaulustigen bildete sich vor dem Zelt. Ein Bauer rief seine Frau zu sich: „was das wohl ist". Es kamen immer mehr Menschen zu dem Zelt. „So etwas habt ihr noch nicht gesehen, kommt her...", brüllte der Dicke. Als sich eine beachtliche Anzahl an Neugierigen vor dem Zelt versammelt hatte, lief er hinein und schrie: „Kaspar, Kapsar, komm du Drecksack." Der Dicke trat aus dem Zelt hervor, hinter ihm humpelte eine Gestalt in schmutzigen Lumpen. Sie näherten sich der Menge. „Seht her, das ist Kaspar", brülle er. Er gab dem Mann einen Fußtritt. „Geh Kaspar, damit man dich auch sehen kann." Kaspar hinkte näher zu der Menge. „Habt ihr schon einmal so etwas Hässliches gesehen?", rief der Dicke und lachte lauthals in die Menge. Die Zuschauer verstummten. Kaspar war einigermaßen groß gewachsen, kahl, sein Körper voll mit Schmutz und Schorf, der rechte Arm endete in einem fleischigen Stummel. Er stand mit bloßen Füßen im Schlamm. Kaspar ging ein wenig herum, schleifte dabei seinen linken Fuß hinterher und stieß ein paar unverständliche Laute aus. Der Dicke fasste ihn bei den Backen und presste seine kleinen klobigen Finger so fest dagegen, dass Kaspar den Mund öffnen musste. Er gab ihm einen Fußtritt und brüllte „Mund auf, du Sack". Kapsar sperrte seinen Mund weit auf. „Seht her, er hat keine Zunge, die hat man ihm herausgeschnitten, dort im Straflager", kreischte der Dicke. Die Menge begann zu lachen. „Keine Zunge, haha, seht her, er hat keine Zunge!" „Er hat das Straflager überlebt, diese Kreatur, seht nur her wie hässlich er ist", höhnte der Dicke und versetzte ihm noch einen Tritt. Er stieß Kaspar noch näher zur Menge hin, sodass diejenigen, die weiter vorne standen, die Narben in Kaspars Gesicht sehen konnten. „Seht die Narben, oh ist der hässlich", riefen einige. „Und jetzt, jetzt seht her, das ist so hässlich, dass ihr es kaum woanders sehen könnt", johlte der Dicke. Er schlug Kaspar ins Gesicht und befahl ihm, sich seiner Lumpen zu entledigen. „Na los doch", kreischte er, „zeig den Leuten, was sie mit dir dort gemacht haben!" Kaspar schüttelte den Kopf, gab heftige Laute von sich, versuchte dem Dicken davonzuhumpeln und fiel auf den schlammigen Boden. Die Zuschauer lachten und grölten. Kaspar bekam ein paar Tritte von seinem Peiniger und stand wieder auf. Der Dicke zog ihm die vom Schlamm durchdrängte Hose herunter, die nur durch eine schäbige Kordel an seinem Körper gehalten wurde. Die Schaulustigen verstummten. Kaspar bedeckte seinen Unterleib mit der Hand und dem Stummel. Der Dicke zog ihm die Hand weg und gab ihm noch einen Tritt. Kaspar stand nun vollends entblößt vor der staunenden Menge. „Er ist ja verschnitten wie ein Ochs!", brüllte einer. Die Zuseher begannen schallend zu lachen. Sie näherten sich ihm, streckten ihre Arme aus und versuchten seinen entstellen Unterleib zu betasten. „Ein Eunuch", grölte eine Frau. „Nun liebe Leut, so etwas habt ihr noch nicht gesehen, gebt ein paar Münzen für die Darbietung", brüllte der Dicke zufrieden durch das Sprechrohr. „Tanz Kaspar, tanz für uns", johlte einer in der Menge. „Ja, tanz", begannen andere zu rufen. Einer kam mit einem Gefäß heißer Kohlen herangeeilt. Man begann mit den Kohlen nach ihm zu werfen. Kaspar versuchte davonzulaufen, fiel aber auf den Boden. Er humpelte zum Zelt, doch der Dicke ließ ihn nicht hinein und stieß ihn weg. Dann kauerte sich Kaspar nieder und hielt beide Arme vor sein Gesicht, Tränen rannen ihm über die Wangen. In der grölenden Menge stand ein Bauer, beugte sich zu seiner Frau, flüsterte ihr zu: „geh, hol Geld, schnell!" Er rieb sich das Kinn, beobachtete nachdenklich, was rund um ihn geschah. „Was verlangst du für den Eunuchen?", rief plötzlich der Bauer. „Sag mir, was du für ihn verlangst!" Der Dicke bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen und ging zu dem Bauern. „Dem Pfaffen hab ich fünfhundert gegeben", sagte er. „Ich gebe dir drei Goldmünzen, mehr hab ich nicht", antwortete der Bauer. „Gib mir die drei Goldmünzen, damit kann ich ein Tier für die Schaudarbietungen kaufen!" Der Dicke grinste. Die Bäuerin ging zu Kaspar und legte um ihn eine Decke, die sie mitgenommen hatte, als sie zum Hof ging, um die Münzen zu holen. Die Zuschauer verflüchtigten sich indessen nach und nach. Der Dicke ging zufrieden zurück in sein Zelt und ließ die Goldmünzen in seiner Hand klimpern. Der Bauer legte Kaspars Arm über seine Schulter. „So, du bleibst jetzt bei uns", brummte er. Sie kamen zum Gehöft. Im Haus wurde der Kamin angezündet. Die Bäuerin stand beim Herd und bereite das Abendmahl. Der Bauer kam mit einem Hemd und einer Hose. Er legte sie Kapsar an. „Müsste passen", grummelte er zu sich selbst. Kaspar lächelte und nickte unentwegt. Er gab ein paar leise Töne von sich. Als sie bei Tisch saßen, wurde kaum gesprochen. Für Kaspar hatte die Bäuerin das Fleisch in kleine Stücke geschnitten, damit er es leichter verzehren konnte. Kaspar saß da in seinen neuen Kleidern, schmatzte und seine Augen wurden lebhaft. „Kannst hier bleiben, hörst du!", sagte der Bauer, die Bäuerin nickte. „Brauchst nichts zu machen", brummte er. Die Bäuerin führte Kaspar die Treppen hinauf. Oben befand sich ein weiß gekalkter Gang und drei Holztüren. Die Bäuerin öffnete die Erste gleich bei der Treppe. Das Zimmer war klein, die Wände weiß gekalkt wie der Gang, es hatte einen hellen Holzfußboden. Ein frisch gemachtes Bett und ein großer Kasten aus dunklem Holz standen darin. „Hier ist dein Zimmer", sagte die Bäuerin. Kaspar legte sich auf das Bett, nahm den angenehm nach Waschlauge riechenden Kopfpolster und presste ihn ganz fest zwischen seine Arme. Er hatte keine Hoffnung mehr gehabt und im Augenblick seiner größten Verzweiflung ward ihm ein Geschenk zuteil, das er nicht begreifen konnte. Als er plötzlich mit seinen Kommilitonen von den Soldaten geholt wurde, als sie ihn ins Straflager brachten, ohne dass er den Grund dafür kannte, als er gezwungen war, mitanzusehen, wie seine Kammeraden umgebracht wurden, einer nach dem anderen, als er die Folter und die Demütigungen zu ertragen hatte, als sie ihm den Arm abhackten, das Geschlecht wegschnitten, das Gesicht entstellten, ihm die Zunge herausschnitten, war keine Hoffnung in ihm. Als sie ihn aus dem Lager entließen, als er von einem Pfarrer aufgenommen wurde, der ihn schlug, demütigte und sich an ihm verging, als er an den Dicken verkauft wurde, als er das Elend, die Qualen während der Hatz der grölenden Mengen zu erdulden hatte, empfand er nur tiefste Verzweiflung ob eines Schicksals, aus dem es kein Entrinnen gab. Nun lag er in einem Bett, in einem Zimmer, in unbeschreiblichem Frieden und mit der Dankbarkeit eines Geretteten. Er schlief ein, die Lippen zu einem ganz sachten Lächeln geformt. Am nächsten Morgen klopfte die Bäuerin an Kaspars Tür. Es rührte sich nichts. Nach einer Weile trat sie ein und sah Kaspar im Bett liegen, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Kaspar" sagte sie, „das Frühstück wird kalt." Kaspar rührte sich nicht. Sie rüttelte ihn, doch er erwachte nicht. Sie strich ihm übers Gesicht und spürte, dass es kalt war. Kaspar war tot. © C.Timidus, Juli 2002 ... link (0 Kommentare) ... comment ... older stories
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