Timidus
Samstag, 4. März 2006
Brasília
Am Reißbrett entstanden
zur Hauptstadt erkoren
kommt Zukunft abhanden,
die man beschworen.


© C. Timidus, März 2006

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Mittwoch, 3. November 2004
Avenida Paulista
„Ganz ruhig“, flüstert er Alexandra ins Ohr. „Es geschieht dir nichts!“ Das kalte Rohr der Knarre an ihrer Schläfe. Mit hurtigen Bewegungen tastet er ihre Hosentaschen ab.
„Wo hast du die Knete?“
„Vorne links“. Alexandra stottert im fremden Akzent.
Menschen hasten vorbei. Fahrzeuge quälen sich in zähem Fluss über die vierspurige Piste. Niemand greift ein, die Eilenden machen einen Bogen um die beiden.
Sie zittert, Schweiß rinnt über die Stirne, Angsttränen brennen in den Augen.

Er zieht die kleine Lederbörse aus ihrer Hosentasche, nimmt die Armbanduhr von ihrem Handgelenk, schlägt ihr mit dem Pistolengriff auf den Kopf. Alexandra fällt zu Boden. Hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Er ist davongelaufen, entschwunden durch die hektische Menge.

Sie setzt sich auf, stützt sich mit der Hand auf das Quadersteinpflaster. Kurze, heftige Atemzüge, Herzklopfen. Es kitzelt auf ihrem Nacken. Sie fährt mit der Hand zu der Stelle. Blut klebt an ihren Fingern.

Benommen steht sie auf. Menschen rempeln sie an. Hier pflegt man schnell zu gehen, ein Ziel vor Augen habend. Alexandra kneift die Augen zusammen, die stechenden Sonnenstrahlen sind ihr unerträglich. Sie wankt zu einem Baum, lehnt sich an den Stamm. Das Blut rinnt langsam über ihren Rücken, wird vom Leibchen aufgesogen.

Allmählich fasst sie sich wieder, hält jemanden auf, will wissen, wo die nächste Polizeistation sei. Hektisch deutet der Mann im Anzug „Nach zwei Querstraßen gerade aus an der Ecke!“

Ein langer Weg durch die Häuserschlucht. Die Glasfassaden der Wolkenkratzer reflektieren die Sonne, blenden. Auspuffe rauchen. Der Lärm pocht in ihren Ohren, lässt den Schmerz in ihrem Kopf anschwellen. Sie läuft am Fernsehturm vorbei. Ein paar Meter noch. Endlich erreicht sie das Kommissariat.

„Ich bin überfallen worden!“, radebrecht sie. Sie solle warten, wird ihr gesagt. Ein Ventilator surrt an der Decke, bläst stickige verbrauchte Luft durch den Raum. Ein untersetzter Beamter mit Schnauzbart hört sich ihre Geschichte an, versucht aus ihrem aufgeregten Gestammel den Hergang zu Protokoll zu bringen. Alexandra kann kein Dokument vorweisen. Die Kopie des Passes, erzählt sie, sei bei dem Vorfall abhanden gekommen.

Wie er denn ausgesehen habe der Täter, wird sie gefragt. Alexandra kann sich an fast gar nichts erinnern. Dunkelhaarig, untersetzt, in Jeans und Sandalen. Der Beamte notiert.

Woher sie komme will er wissen. Ob sie jemanden habe in São Paulo. Eine Brieffreundin, bei der sie jetzt zu Gast sei.
„Aus Europa!“ ruft der Beamte entzückt. Über Wien habe er schon einiges gehört, Walzer, Sigmund Freud und so fort. Alexandra lächelt gequält und nickt. São Paulo sei sehr gefährlich, belehrt er Alexandra wohl wollend, sie solle in Zukunft nicht mehr so alleine herumlaufen. Der Täter würde nie gefunden werden, tausende Male pro Tag passiere derlei in dieser Stadt, ganz zu schweigen von den Morden.

Die Nummer ihrer Gastgeberin hat sie auswendig gelernt, zur Sicherheit. Auf der Polizei sei sie, erzählt sie aufgeregt, als der Beamte ihr den Hörer in die Hand drückt. Ein Überfall.
„Ich hol dich dort ab.“
Ihren Pass solle sie mitnehmen, er liege auf der Kommode im Gästezimmer. Eine Beamtin streift sich Gummihandschuhe über die Hände, fährt Alexandra durchs Haar, tupft mit Desinfektionsmittel herum.
„Nichts schlimmes!“ sagt sie gleichgültig.
„Eine kleine Platzwunde!“ Die Beamtin klopft ihr auf die Schulter. So schöne blonde Haare, meint sie, sehe man in Brasilien nur im Süden.

Joana, Alexandras Gastgeberin, kommt im Taxi. Es habe gedauert, der Verkehr sei unerträglich wie üblich.
„Gott sei Dank ist nicht mehr geschehen!“
Joana fischt Alexandras Pass aus ihrer Brusttasche, die sie unter der Bluse verborgen trägt. Der Beamte nimmt die Daten auf. Alexandra erhält eine Kopie des Protokolls.

„Sie waren ganz nett zu mir!“, meint Alexandra, als sie neben ihrer Freundin im Taxi sitzt.
„Zu Touristen aus Europa sind sie fast immer nett. Unsereins wird behandelt wie Dreck!“, seufzt Joana. Alexandra schneuzt sich, der Rotz ist grau von der verschmutzten Luft.

„Aber mitten auf der Avenida Paulista...“, Alexandra hat sich ein wenig beruhigt.
„Komm, heute am Abend machen wir etwas ganz tolles!“

Am Abend fahren sie los, Joana, ihr Verlobter und Alexandra, durchqueren die lärmige Stadt, fahren die Avenida Paulista entlang, Lichterglitzer. Eine schwarze Limousine blockiert den Verkehr, drei schwarz eingehüllte Frauen aus dem Orient entsteigen dem Luxusgefährt. Joana hupt.

Sie fahren die ganze Schlagader der Stadt entlang bis zum Edifício Itália. Ein bewachter Parkplatz, Schmiergeld für den Wächter. Hinauf geht es in den fünfzigsten Stock. Das Restaurant ist vom Feinsten. Ein Platz am Fenster. Unter ihnen ein endloses Lichtermeer. Alexandra will weg von hier, aber jetzt noch nicht.



© C. Timidus, Wien im August 2004

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Dienstag, 31. August 2004
Fritz ist im Fernsehen
Für zehn Sekunden ist Fritz im Fernsehen. Die Kamera ist auf seine fettig glänzende Nase gerichtet. Wie ihm das Fest gefalle, wird er gefragt. Fritz darf - „Tolle Fete. Super, gefällt mir“ - sagen. Geschmeichelt hat es ihm, dem Fritz. Ganz stolz tänzelt er durch das Lokal. Ganz Österreich werde ihn sehen, denkt er. Fritz lächelt.

Froh ist er, so froh, dass er hierher gekommen ist. In der Zeitung ist es gestanden, groß angekündigt als Fest des Monats. Und nun ist er gar im Fernsehen. Welch eine Nacht! Samstag ist es, wenn Wien Rio spielt und nicht schlafen geht bis Sonntagnachmittag. Bumm bumm dröhnt es aus allen Ecken, schweißnasse Tänze und das Fernsehen dann und wann. Mitgefilmt muss werden. Nun ist auch Fritz berühmt, für zehn Sekunden. Tamtaratei! Das Leben ist wunderbar!

Kampfa ist mit ihrer Freundin Konga hier. Spaß haben, es kostet ja viel, der Eintritt, die Getränke. Konga schreit Kampfa ins Ohr. Sie habe die Partnervermittlung verklagt. Kampfas Blicke fragen warum. Halbgötter habe sie im Katalog bestellt. Schließlich wäre immer nur ein Häufchen Mensch erschienen am Treffpunkt. So etwas, brüllt sie, könne man sich nicht gefallen lassen, es koste ja eine Stange Geld. Kampfa nickt und widmet sich dem Lärm, wackelt mit dem Körper. Fritz nähert sich den beiden. Er riecht nach Vorstadt, Konga stößt ihn weg.

Die Fernsehleute huschen durch die zuckende Menge. Schnell, schnell. Die Schanka kommt gerade, die prominente Schanka! Scheinwerfer ergrellen den Saal. Sogar die Schanka ist gekommen! Welch ein Erlebnis! Sie erblitzt im Scheinwerferlicht, hebt das hochhackig beschuhte Beinchen in die Kamera. Voller Bewunderung der Reporter. Er liebedienert die Berühmtheit an. Stellt viele Fragen über ihr Leben. Gefärbtes Blondhaar schüttelt sich gegen die Linse, ein rot glänzender Kussmund spitzt sich in ihrem Gesicht. Schanka steht im Mittelpunkt, entblößt ihre Brüste, lässt sich genussvoll filmen.
„Bin ich nicht schööööön?“, piepst sie der Welt entgegen.

Fritz stellt sich auf die Zehenspitzen, kann einen Blick auf Schanka werfen, für zehn Sekunden. Getrunken hat er auch einiges, der Fritz. Er geht aus dem Lokal. Schön ist es gewesen. Zehn Sekunden im Fernsehen und ein Blick auf die berühmte Schanka.

Hinter ihm drängeln sich Konga und Kampfa. Fritz dreht sich um, sieht die beiden, lächelt sie an.
„Schleich dich, du schiacher!“ Konga ist erbosst.
Fritz ist gekränkt. Ein wenig freundlicher hätte die Ablehnung ausfallen können.
„Ich war im Fernsehen!“, sagt er trotzig.
„Na wenn schon!“, grummelt Kampfa zu sich selbst.

Früher Morgen. Menschen wuseln die Prachtstraße entlang. Lachen, Neon, Lärm. Sich selbst vergessen, auch die Tage, von welchen einer dem anderen gleicht. Schal und leer das Lachen, der Tanz, die wohlbekleideten Leiber, die Arten von Beischlaf, welchem so manche sich noch hingeben werden. Ein Püppchen fürs Leben, das wird erträumt.

Ein schriller Tanz Unbeseelter. Morgengrauen. Prächtige Gemäuer von den Sonnenstrahlen in Gold gehüllt. Koren tragen Gesimse von Portalen; Atlanten und Fabelwesen die Giebel oberhalb der Fenster. Rotgolden schimmern die Kuppeln, die Ziegeldächer. Einstmals war diese Stadt groß gewesen, in den alten Mauern ruht der verblichene Glanz. Zu dieser Stunde kann man einen Hauch davon erfühlen.

Fritz wankt zum Taxistandplatz, fällt auf den Polstersitz. Mit süffisantem Lächeln babbelt er seine Adresse in der Vorstadt. Im Fernsehen sei er gewesen, erzählt er. Mit gähnendem Maul erwidert der Lenker. Gelb getüncht ist die Fassade von Fritz’ Wohnhaus. Hübsch, in sanftem Gelb und Weiß. Drinnen bröckelt der Verputz ab. Eine Glühbirne hängt auf schwarzem Draht von der schimmeligen Decke herab. Am Gang miefelt es nach Zwiebeln, Gebackenem und Gebratenem. Kalte Küchendünste. Geschimpfe in fremden Sprachen, selbst um diese Morgenzeit. Fritz fällt in sein ungemachtes Bett. Er schläft lächelnd ein. Im Fernsehen ist er zu sehen gewesen, für zehn Sekunden.

© C. Timidus, 2003

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Letzte Aktualisierung: 2006.03.04, 17:36
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